Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
Filmfestival einzutauchen. Im Kinofoyer macht uns eine Freundin miteinander bekannt; später, beim Italiener, berichtet der Mittfünfziger aus Tübingen, dass er gerade seine Magisterarbeit in Philosophie schreibe. Fragende Blicke erntet er wohl oft, doch es schwingt keine Rechtfertigung mit, als Axel Braig andeutet, vor sechs Jahren freiwillig aus dem Berufsleben ausgestiegen zu sein.
Als wir uns zum Gespräch treffen, habe ich zwei der drei Bücher gelesen, die der ehemalige Arzt veröffentlicht hat, darunter das vielbeachtete Plädoyer »Die Kunst, weniger zu arbeiten«, in dem er und sein Co-Autor Ulrich Renz den Preis von Arbeitssucht und die Verluste ständiger Lebensbeschleunigung kritisch beleuchten. Entstanden sei sein erstes Buch, als er mit seiner Frau noch eine Gemeinschaftspraxis führte, erzählt Axel Braig, ein zierlicher Mann mit dunklem, lockigem Haarkranz, freundlichen Augen und zeitloser Pullover-Hosen-Kombination, die man oft in Bioläden sieht.
Der sonnendurchflutete Raum, in dem wir sitzen, sei eine Wunscherfüllung. Mit fünf Freunden teilt er sich die Kosten für die Zweitwohnung in Moabit; ein gut geführter Terminkalender koordiniert, wann jeder mit oder ohne Familie die Berliner Dependance nutzt. Zwei Stunden dauerte der Einkauf bei Ikea, dann hatten er und seine »Kommunarden« das Mobiliar der funktional und sparsam möblieren Zweizimmerwohnung beisammen, erinnert sich Axel Braig amüsiert. Bisher ein erfolgreiches Modell. Dass der jeweilige Nachfolger immer eine Flasche Wein und im Kühlschrank eine Notration vorfinde, sei eine bewährte Regel.
»Ich möchte wieder Pfadfinder meines Lebens werden.« In seinem Buch habe ich den Satz unterstrichen, im Gespräch ist Axel Braig auf der Hut vor Aussagen, die missionarisch oder zu pathetisch klingen könnten. Leicht schwäbelnd, holt er aus, als ich nach der Ausbildung seiner drei erwachsenen Töchter frage. Doch über eigene Aktivitäten hüpft er –ungewöhnlich für einen Mann– oft hinweg, als messe er ihnen wenig Bedeutung zu. Aus Loyalität bleibt manches Private für die Öffentlichkeit tabu. Erst im Internet stoße ich auf das rege Diskussionsforum, das er und Ulrich Renz unter www.arbeitswahn.de eingerichtet haben. In mehreren hundert Zuschriften äußert die Mehrheit den Wunsch, beruflich kürzer treten zu können, um mehr Zeit für andere wichtige Dinge zu haben.
Das Wort Glück meide ich eher. In dieser Beziehung bin ich abergläubisch. Glück ist ein zartes Pflänzchen, wie eine Eisblume, die verschwindet, wenn man sie anhaucht. Ich bin vorsichtig, hänge den Begriff lieber etwas tiefer. Glück ist ja immer flüchtig, aber es ist sicher eine Gefahr, dass man Gelegenheiten zum Glück verschiebt, weil man meint: »Wenn unser Haus erst einmal fertig ist… Wenn ich erst einmal in Rente bin, ja, dann…« Um mit Kurt Tucholsky zu sprechen: »Erwarte nichts. Heute, das ist dein Leben.«
Ich bin 1951 geboren. Ich denke, für meine Eltern bedeutete Glück, auf etwas stolz sein zu können, es geschafft zu haben. Mein Vater hatte nur Volksschulabschluss, nach dem Krieg arbeitete er sich zum Wirtschaftsressortleiter in den Stuttgarter Nachrichten hoch. Er tat alles, um meiner Mutter ein ordentliches, bürgerliches Leben zu bieten. Er war der Arbeitsheld, sie räumte ihm zu Hause alles aus dem Weg. Über Glück zu reden war damals wohl fast so unanständig wie über Sexualität zu sprechen. Aber als wir 1959 in das eigene Reihenhaus einzogen, war ihr wichtiges Ziel erreicht. Wenn wir Besuch hatten, wurde unser Haus vom Heizungskeller bis zum Dachboden besichtigt. Und wenn mein Vater Weihnachten vom Vorstandsvorsitzenden von Daimler Benz eine Flasche Wein mit Autogramm bekam, freute er sich wie ein Schneekönig. Wegen seiner geringen Schulbildung brauchte er sicher viel psychische Energie, um seine berufliche Position zu halten. Er starb früh an einem Herzinfarkt. Beerdigt wurde er am Tag meiner mündlichen Abiturprüfung. Aber obwohl es nach dem Hauskauf bei uns nur noch Margarine und keine Butter mehr gab, »damit es reicht«, haben meine Eltern in der Summe sehr viel weniger gearbeitet als meine Frau und ich. Dieser Vergleich wurde für mich zum Anstoß, mir die Frage zu stellen: »Wir rennen beide wie verrückt in der Gegend rum. Für uns selbst bleibt kaum Zeit. Muss das so sein?«
Meine Frau Christel sah ich zum ersten Mal auf dem Gesundheitstag 1980 in Berlin. Unter den 15 000 Teilnehmern herrschte eine große
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