Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
Manchmal bin ich fassungslos über die mangelnde Offenheit, Neues auszuprobieren.
Was wir uns immer geleistet haben, waren Urlaube in südlichen Gefilden. Und im Februar machten Christel und ich eine mehrtägige Städtereise, ohne Kinder. Es ist wichtig, sich ab und zu außerhalb des üblichen Tagesablaufs zu erleben. Die Gefahr ist, dass man im Alltag total versinkt und den Partner wie ein Instrument betrachtet, das funktionieren muss. Wir hatten das Glück, unsere beruflichen und familiären Ziele zu erreichen, aber ich fühlte mich andererseits mehr und mehr als Gefangener unserer eigenen Pläne. Unsere Reisen waren für mich wie ein Freigang.
Genau mit 50 zog ich dann einen Strich. Ich verkaufte meinen Praxisanteil an einen Nachfolger, den wir vorher eingearbeitet hatten. Ich schrieb einen Rundbrief an meine Patienten und legte das persönliche Kapitel aus meinem Buch bei. Die meisten waren verständnisvoll. Im Kollegenkreis reagierten hingegen viele gereizt. Ein Kollege schrieb mir, er habe sich betroffen gefragt, »wieso Ihre Frau weiterhin arbeiten muss und Sie faul sein dürfen«. Ein anderer sagte: »Sie haben’s gut. Wenn ich mir das leisten könnte.« Er hatte mir vorher erzählt, dass er sich sein Traumhaus gebaut habe. Ich sagte ihm darauf, dass er sofort aufhören könne zu arbeiten, wenn er sein Haus verkaufe und stattdessen in eines wie das unsrige ziehe. Er fand das unverschämt. Ich erlebe das bei vielen Kollegen: Sie klagen über Stress, aber sie billigen sich nicht zu, da rauszukommen, sondern geraten in eine Jammerspirale. Ich kam irgendwann zu dem Schluss: Das ist doch gar nicht, was ich will. Wenn man 14 Stunden wie ein Dackel schafft, hockt man abends nur noch müde rum, lässt sich im Fernsehen von Schwachsinn berieseln und mag sich selbst nicht mehr. Und wenn man eine Woche total im Dreh ist, kann man den freien Samstag auch glatt vergessen. Je älter die Kinder wurden, desto mehr bezweifelte ich dieses »Così fan tutte« (»So machen’s alle«), desto dringender stellten sich für mich nochmals die Fragen: Was will ich? Und wo will ich hin? Henry David Thoreau 45 spricht von einem Leben »mit einem größeren Rand«, also ein Leben, in dem nicht jede Seite eng beschriftet, im Voraus verplant ist. Ich wusste: Ja, ich möchte ein Leben mit einem größeren Rand. Hinzu kam der Befund, dass ich das Herzinfarktrisiko meines Vaters geerbt habe. Die Aussicht, dass ich mit 65 gesund in den Ruhestand gehe und dann noch 20 Jahre Rente vervespere, ist gering.
Das Thema Arbeit und Leben wurde eine Obsession von mir. Meine Frau konnte es irgendwann nicht mehr hören, aber sie hat den Gärungsprozess, bis daraus ein Buch wurde, loyal mitgetragen. Ich habe es ja noch neben dem Praxisbetrieb geschrieben, dazu braucht man schon kriminelle Energie. Entstanden ist es primär aus dem Anliegen, für mich ein Problem zu klären. Wenn ich etwas Passendes zum Thema gefunden hätte, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, selbst ein Buch zu schreiben. Es erschien eine Woche nach meinem Abschied aus der Praxis, die Lesung in Tübingen war rappelvoll. Dass ich als Autor eine neue Rolle kriegte, war mir durchaus willkommen. Als Arzt badest du ja ständig in sozialer Anerkennung. Was der Entzug bedeutet, habe ich unterschätzt. Ich habe viele Phasen durchgemacht. Es gab die Entlastungsdepression, es gab die Euphorie »Super, ich kann machen, was ich will«, in der ersten Zeit habe ich systematisch alle Essais von Montaigne durchgearbeitet, ich habe häufiger Klavier gespielt, länger Zeitung gelesen, ich habe einfach langsamer gelebt. Und auf dem ersten Elternabend fiel dann auch sofort der Satz: »Herr Braig, Sie haben doch jetzt Zeit.«
Auch für meine Frau war mein Ausstieg nicht einfach. Aber ihre grundsätzliche Akzeptanz wurde nochmals erhöht, als ich 2002 die ersten Plastikschläuche in die Herzkranzgefäße gelegt bekam. Bis vor kurzem habe ich jedes Jahr die Urlaubsvertretung für meinen Nachfolger übernommen. Es ist mein Krankheitsgewinn, dass Christel nach dem letzten medizinischen Befund sagte: »Du gehst nicht mehr in die Praxis.« Für unsere Kinder und deren Freunde wurde ich eher interessanter. Sie schätzen, dass das Essen zu Hause besser würde, dass ich weniger gestresst und immer verfügbar wäre, sie irgendwo hinzufahren.
Ich würde den Schritt wieder machen. Ich denke, jeder sollte selbst entscheiden können, bis zu welchem Alter er arbeiten will. Es wäre viel gewonnen, wenn wir mehr
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