Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
Aufbruchstimmung, unser Ideal war eine soziale Medizin in Gesundheitszentren oder großen Gemeinschaftspraxen. Christel arbeitete bereits als Fachärztin in einer Klinik, während ich noch famulierte. Nach dem Abitur hatte ich parallel Kontrabass und Jura studiert und mich nach drei Semestern entschieden, Orchestermusiker zu werden. Das Jahr in Berlin im Radiosymphonieorchester war eines meiner glücklichsten, aber die Mentalität meiner Kollegen hat mich abgeschreckt. Um 10 Uhr war Dienstbeginn und Punkt 11 . 15 Uhr war die erste Pause. In der Kantine standen regelmäßig die Schnäpse für die ganze Bassgruppe bereit. Nach meinen vorangegangenen freiberuflichen Engagements und der spannenden Zusammenarbeit mit immer neuen Besetzungen und Dirigenten war dieses Musikbeamtentum sehr ernüchternd.
1976 sattelte ich auf Medizin um. Ich wollte etwas richtig Nützliches machen und glaubte, als Arzt mehr Gestaltungsfreiräume zu haben. Meine Berufswahl wurde auch beeinflusst von der Krebserkrankung meiner Mutter und meiner Bewunderung für den Einsatz der Ärzte. Meine Eltern starben 1970 / 72 , beide mit 52 Jahren. Wenige Stunden bevor mein Großvater beerdigt wurde, ertrank mein ältester Bruder 1976 mit 31 Jahren nach einem epileptischen Anfall im Hallenbad.
Die Sorge meiner Eltern um ihn hatte meine Kindheit überschattet. Aus Vorsicht durfte er kein Fahrrad fahren und ich aus Gerechtigkeit auch nicht. Sonst galt für mich eher die Regel: Das dritte Kind wird alleine groß. Eine sehr plastische Kindheitserinnerung ist: Unsere Nachbarn hatten ein Abbruchunternehmen, manchmal durfte ich mit zum Lagerplatz. Für das Sortieren von Materialien bekam ich zehn Pfennig pro Stunde mit richtiger Lohnabrechnung. Ich vesperte mit den Arbeitern und fühlte mich wichtig und nützlich.
1986 haben Christel und ich unsere Gemeinschaftspraxis eröffnet. Bevor wir uns in Tübingen niederließen, hatten wir sechs Jahre in einem schwäbischen Weindorf nahe Stuttgart in einer Wohngemeinschaft gelebt, in einem ehemaligen Gasthof. Als ein Paar in ein eigenes Reihenhaus umzog, weil sie Eltern wurden, fanden wir das spießig, aber der Bruch hat sich geglättet, denn nach der Geburt unseres zweiten Kindes haben wir es ähnlich gemacht.
Christel und ich hatten damals den Anspruch, es muss für uns beide alles zusammengehen: Kinder, Beruf, soziales und politisches Engagement. Kinder und Praxis haben wir ganz gut hingekriegt, alle anderen Vorstellungen verdünnisierten sich, weil die Praxis immer fetter wurde. Ich war Gründungsmitglied der Alternativen Liste, ich habe für den Gemeinderat kandidiert, doch beim zweiten Mal dachte ich schon: Um Himmels willen, wenn es klappt! Nach unserer Niederlassung hatte ich mir einen Flügel in die Praxis gestellt, weil ich meinte, ich käme gelegentlich dazu, Klavier zu spielen, aber das war ein Irrtum. Anfangs war man froh über jeden Patienten, später traute man sich nicht, abzulehnen. Solange unsere Kinder klein waren, arbeiteten wir abwechselnd in der Praxis, es gab klare Schnittstellen. Schwieriger wurde es, als die Kinder größer wurden und es nicht mehr eindeutig war, wann und ob sie überhaupt betreut werden mussten. So eine Praxis hat ja eine Sogwirkung, wobei ich mich immer stärker als Christel abgrenzte. Im Unterschied zu ihr konnte ich nie im Brustton der Überzeugung sagen: »Ich bin Musiker« oder »Ich bin Mediziner.« Mein Gefühl war und ist: Ich mach’ das jetzt so gut ich kann, aber ich bin das nicht.
Anders als meine Eltern mussten wir uns für den Kauf unseres Häuschens nicht krummlegen. Im Vergleich zu Kollegen pflegten wir jedoch immer einen relativ niedrigen Lebensstandard, vor allem aus der Überzeugung heraus, dass es mehr Freiheit verschafft, weniger materielle Bedürfnisse zu haben– ein Gedanke, den ich später bei Epikur philosophisch formuliert fand. Ich will mir den Luxus leisten, so wenig zu brauchen, dass ich Geld als relativ unwichtig ansehen kann. Unser Haus steht nicht in einem teuren Viertel von Tübingen, wir schlugen uns fünf Jahre mit car-sharing durch, jetzt fahren wir unser Auto bis es durchgerostet ist. Seit 17 Jahren mache ich die meisten Wege mit einem Halbliegerad, das ein Freund entworfen hat. Es ist viel sicherer und bequemer als die üblichen Modelle. Ich habe damit sommers wie winters auch Hausbesuche gemacht und genoss es, zwischendurch an der Luft zu sein. Aber ich war immer konfrontiert mit Schlaubergern, die die Vorteile nicht gelten ließen.
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