Der Weg zur Hölle
dem Sternekoch zu reden. Mehr fällt mir jetzt auch nicht ein.«
»Danke«, sagte Wedelbeck, aber erleichtert wirkte er nicht. Dann öffnete er die Tür, und Kojun fuhr ohne ein weiteres Wort davon.
*
Nach dem Tod sehen wir noch ziemlich genauso aus, wie zu Lebzeiten, nur jünger. Warum das so ist, habe ich bereits erklärt. Außerdem können wir unsere Körper in gewissem Rahmen umformen, zu einer Kugel zum Beispiel. Und wir können die Kleider wechseln, die uns umhüllen. Das erfordert nicht mehr als ein Minimum an Konzentration, und jeder Geist beherrscht das binnen kürzester Zeit. Nackt ginge natürlich auch, aber das macht keiner. Der Tod ist nicht das Ende des Schamgefühls! Man könnte also sagen, die Geisterwelt ist voller junger, meist gut angezogener, halb durchsichtiger Wesen.
Für Selbstmörder gilt die Altersregel genau umgekehrt.
Es ist, als ob die Antwort, die man sich auf die Frage nach dem Wert des eigenen Lebens gibt, profunde Auswirkungen auf unsere Nachtoderscheinung hat. Das darf man nicht als eine Art göttliche Strafe für Selbstmord verstehen. Ein altes Erscheinungsbild ist in unserer Welt nicht mit Gebrechlichkeit verbunden. Und da wir kein Sexualleben haben, messen wir äußerlicher Schönheit nicht allzuviel Bedeutung bei. Es steht einem einfach nur ins Gesicht geschrieben.
Die Selbstmörderin, die ich zuvor erwähnt habe, schwor mir zum Beispiel alle erdenklichen Eide, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes nicht älter als achtzehn Jahre alt gewesen war. Der Geist, der da vor mir stand, sah aber mindestens aus wie siebzig.
In Städten wie Berlin findet man viele Geister mit alten Gesichtern.
Als ich diese Beobachtung meinem Therapeuten mitteilte, rollte er nur mit den Augen. Er meinte lakonisch, das habe vor mir wahrscheinlich jeder Geist bemerkt, und nach mir würde es auch noch jeder tun. Wenn mich der Anblick störe, solle ich es so machen, wie er: Durch die Straßen rennen und rufen: »Selbstmörder sehen Scheiße aus!« Zwei Wochen, und es wäre mir egal. Natürlich tat ich das nicht. Statt dessen erzählte ich ihm von einer Statistik, die ich in einer Zeitung gefunden hatte. Dort hieß es, dass die Selbstmordrate unter Psychiatern im Schnitt doppelt so hoch sei, wie unter ihren Patienten. Ich brauche wohl nicht zu erzählen, wie das Gespräch endete.
Das Mädchen, dass ich eine gute Stunde nach Wedelbecks Gespräch mit dem Polizeipräsidenten im Präsidium sah, konnte nicht älter als fünfzehn Jahre alt sein, aber sie wirkte bereits auf eine Weise müde und leer, wie man sie sonst nur unter schwer enttäuschten alten Leuten findet. Ich wusste nicht, ob das Mädchen tatsächlich mit dem Gedanken spielte, sich umzubringen, aber gewundert hätte es mich nicht. Alles wirkte lustlos an ihr: das bauchfreie T-Shirt, der potthässliche Gürtel, die Ohrringe und sogar der glitzernde Nagellack. Als hätte sie sich vor Jahren so zurechtgemacht, als sie noch ein naives, fröhliches Kind war, das mit seinen Freundinnen um den aufdringlichsten Lippenstift wetteifert, und den ganzen Kram in den folgenden Jahren einfach dran gelassen. Ich war unwillkürlich abgestoßen von ihrem Anblick und erschrak zugleich über mich selbst. Trostlosigkeit soll doch eigentlich Mitleid erzeugen. Aber ich wurde wütend.
Beim Anblick lebender Kinder, die tot aussehen, richtet sich die Wut des Betrachters gegen das Kind selbst, vor allem deshalb, weil man nicht genau weiß, wohin sonst damit.
Neben dem Mädchen stand eine kleine, ältere Frau mit ungesunder Gesichtsfarbe. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass es blaue Flecken waren, die allmählich verblassten. Außerdem keifte sie den ganzen Flur entlang.
»Das geht nicht! Er hat doch nichts gemacht! Mein Mann tut keiner Fliege was zuleide!«
Neben ihr stand ein junger Mann mit Aktenkoffer und dunklem Anzug, in den er noch nicht ausreichend hineingewachsen war. Er versuchte höflich aber distanziert und völlig erfolglos, die Frau zu beruhigen. Sie beachtete ihn garnicht und beteuerte einfach weiter lautstark die Unschuld irgendeines Mannes.
Ich begann zu ahnen, warum sich das Mädchen neben ihr so abgeschottet hatte. Vielleicht hoffte sie auf diese Weise, nicht als Teil dieser auffälligen Kleingruppe bemerkt zu werden.
Aus einer der Türen kam Wedelbeck heraus gestürmt, dicht gefolgt von Bella Weilandt. Der Hauptkommissar musste seine Begrüßung und die Entschuldigung, dass man die Dame und ihr Gefolge so lange hatte warten lassen, förmlich
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