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Der Weg zur Hölle

Der Weg zur Hölle

Titel: Der Weg zur Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaspar Dornfeld
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er, die Hausfassade hochzuschweben. Im obersten Stockwerk angekommen setzte er sich auf eine Fensterbank und starrte in eine Wohnung. Ich folgte ihm.
    In einem Zimmer saß eine alte Frau inmitten einer halb vermoderten Einrichtung auf einer dunkel geblümten Couch. Sie trank Wodka aus einer Flasche und sang leise weinend vor sich hin. Hätte zwischen ihrem Arm und der Sofalehne eine Spinne ein Netz gewebt, es hätte mich nicht gewundert.
    Den Text des Liedes verstand ich natürlich nicht. Die Sprachbarrieren sind nur zwischen Geistern aufgehoben, aufgrund der telepathischen Natur unserer Kommunikation. Deshalb dachte ich, als mein Therapeut anfing, mitzusingen, er wolle mir den Text übersetzen, doch als ich ihn genauer betrachtete, merkte ich, dass er meine Anwesenheit komplett vergessen zu haben schien.
     
    Es ging ein Mädchen über die Wiese
    Es trug eine Schürze mit Birnen
    Ein Junge hat es getroffen
    Und sagte: »Gib mir deine Birnen!«
     
    »Wen ich liebe ein bisschen,
    Dem gebe ich eine Birne.
    Wen ich liebe mit ganzem Herz,
    Dem geb' ich die ganze Schürze mit den Birnen.«
     
    »Mädchen sag mir, zu welcher Familie du gehörst
    Und ob du mit mir spazieren gehst!«
    »Ich werde dir nicht sagen, zu welcher Familie ich gehöre.
    Ich bin nicht deine Freundin.«
     
    Ich gebe zu, telepathische Kommunikation eignet sich nicht zur Lyrikübersetzung.
    Als das Lied zu Ende war, wandte sich mein Therapeut wieder mir zu.
    »Darf ich vorstellen? Meine Frau!«
    Ich war sprachlos.
    »Ingenieurin für Reaktortechnik. Eine der besten, die wir damals zu bieten hatten. Sie glaubt, sie hätte den Unfall verhindern müssen und damit den Tod tausender Menschen, einschließlich meinem.«
    »Das tut mir leid«, stammelte ich.
    »Schenken Sie sich Ihr blödes Mitleid! Es ist nichts wert. Garnichts. Feiern Sie! Danken Sie Ihrem Schöpfer, oder an was Sie auch immer glauben, dass alle aus Ihrem Gedächtnis gelöscht sind, deren Elend Sie hätten bezeugen müssen, oder womöglich noch schlimmer: deren Glück ohne Sie!«
    »Es ist doch wohl nicht schlecht, die eigenen Kinder aufwachsen zu sehen?«
    »Was soll daran toll sein, wenn sie zu einem anderen Mann Papa sagen? Ersparen Sie mir Ihre Reife! Sie gehen mir auf den Sack!«
    »Vielleicht bemitleide ich doch lieber Ihre Frau«, sagte ich trocken.
    »Unsere nächste Sitzung ist in drei Tagen«, erwiderte er im gleichen Ton. »Berlin ist da lang!« Und weg war er.
    Ich brauchte fünf Tage. In Polen war das Wetter schlecht.
    *
    Koss drehte sich um und starrte den neuen Bewohner unserer kleinen Keller-WG an. Erkannte er ihn, oder war es das seltsame Schnalzen, scheinbar Medchenwunders einzige noch mögliche Lautäußerung, die Koss dazu bewog, den Kopf schief zu legen, zu dem anderen hinzuschweben und ihm die Hand aufs Gesicht zu drücken?
    Beide zuckten wie durch einen Stromschlag getroffen, und Koss riss die Hand wieder weg. Er runzelte die Stirn und schwebte eine Minute lang völlig regungslos vor Medchenwunder in der Luft. Dann legte er die Hand noch einmal auf das Gesicht des Anderen, und das Zucken begann von Neuem.
    Ich habe mal ein kleines Kind gesehen, nicht älter als zwei Jahre, das Meerrettich aß. Zuerst aus Versehen. Seine Eltern hatten einen Moment lang nicht aufgepasst, und das Kleine hatte seinen Löffel in das offene Glas gesteckt, nur, um ihn sich postwendend in den Mund zu schieben. Das Kind verzog das Gesicht und fing beinahe an zu weinen. Als die Schärfe endlich verflogen war und es sich beruhigt hatte, stieß es wieder den Löffel in den Meerrettich und versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
    Ich hatte die Vermutung, dass Koss aus einem ähnlichen Anfall kindlichen Lernwillens heraus handelte, aber das konnte ich ihm nicht durchgehen lassen. Medchenwunder, der auf dem Boden lag und ohnehin Konsistenzprobleme hatte, würde mir durch das neuerliche Herumzucken womöglich doch noch in Richtung Erdkern verschwinden.
    Ich packte ihn kurzerhand und schob ihn in einen Verschlag am anderen Ende der Kelleretage.
    Koss würde noch Tage brauchen, bis er aus eigener Kraft durch Wände schweben konnte, und dann wäre er bereits soweit bei Verstand, dass er Dummheiten wie das ungeschützte Betatschen anderer Geister unterließe.
    Den Rest der Nacht verbrachte ich neben Medchenwunder und dachte über die Geschichte nach, in die ich mich hinein manövriert hatte.
    Natürlich war Reemunds Theorie fragwürdig. Ein moralischer Rächer, der Leute umbrachte?

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