Der Weg zur Hölle
Allerdings hatte ich in den letzten zwanzig Jahren so viele unglaubliche Dinge gesehen, dass mir mittlerweile alles möglich erschien, solange Menschen im Spiel waren. Ein Gedanke, der ebenso viel Hoffnung macht wie Angst.
Ich fragte mich, ob ich nicht selbst Ermittlungen anstellen sollte, aber das verwarf ich wieder. Um ehrlich zu sein: ich hatte Angst vor der eigenen Machtlosigkeit. Die Vorstellung, womöglich Zeuge eines neuen Verbrechens zu werden und nichts dagegen tun zu können, war mir unerträglich.
Als der Tag zurück kam, hatte es wieder zu regnen begonnen. War ich bis dato in einem Zustand leichter Konfusion gefangen gewesen, bekam ich jetzt richtig schlechte Laune. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Kaum war ich den düsteren Kellerverschlägen entkommen, wurde ich von einem freudigen Bellen begrüßt. Der Geist von Kesselbachers erschossenem Hund! Er musste mir gestern Abend bis hierher gefolgt sein.
Tiere durchlaufen keine Nachtodamnesie wie Menschen. Für sie scheint alles wie immer zu sein, bis ihnen endlich klar wird, dass nichts mehr stimmt. Dann lösen sie sich für gewöhnlich auf, aber eben nicht immer, wie in diesem Fall. Dem Hund mussten einige Dinge widerfahren sein, die er nicht hatte einordnen können. Vielleicht waren zu viele Menschen durch ihn hindurchgelaufen, ohne ihn zu bemerken. Niemand hatte ihn mehr bellen hören, und womöglich hatte er auch registriert, dass er keine brauchbaren Duftmarken mehr hinterlassen konnte, vom plötzlichen Fehlen jeden Eigengeruchs ganz zu schweigen.
Ich hatte den Hund aus den Augen verloren und vergessen, aber er war wohl zum Tatort zurückgekehrt, bevor Medchenwunder und ich von dort aufgebrochen waren und hatte sich uns unbemerkt angeschlossen. Seine tierischen Instinkte verrieten ihm wahrscheinlich, das wir die einzigen Wesen auf seiner Existenzebene waren. Mir in den Keller zu folgen, durch Wände zu gehen, das war ihm jedoch zu viel gewesen. Ich stellte mir vor, wie er die ganze Nacht um das Haus gelaufen sein musste, immer auf der Suche nach uns.
Jetzt sprang er freudig auf mich zu, wedelte mit dem Schwanz und fiepste zum Gotterbarmen.
Ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich Tiere nicht leiden kann, aber hier und heute, nach einer Nacht verworrener Gedanken und mitten im Regen, war mir alles egal.
»Kommst du eben mit«, sagte ich und flog los, langsam, damit es dem Hund keine allzu große Mühe machte, mir zu folgen.
*
Eine Stunde später saßen wir beide auf der Rückbank von Reemunds Auto. Ich mit dem Versuch beschäftigt, mich nach Stellen zu untersuchen, die der Regen abgehackt haben könnte und der Hund aufrecht, mit heraushängender Zunge. Ein hässliches aber gut erzogenes Tier.
Vorn saßen der Hauptkommissar und seine Tochter. Sie musste heute wieder in die Schule. Am Nachmittag sollte sie von ihrer Mutter in Empfang genommen werden.
Die Stimmung im Auto war gelinde gesagt gedämpft. Ich wusste mittlerweile, dass Reemund in Belindas Gegenwart alle mühsam zur Schau gestellte Souveränität verlor und sich zu benehmen pflegte wie ein geistig minderbemittelter Schuljunge. Aber auch das Mädchen war heute Morgen auffällig still. Zuerst dachte ich, sie sei einfach müde, aber ein genauerer Blick verriet mir, dass sie über irgendetwas brütete.
Ich sah Reemund heute zum ersten Mal hinter dem Steuer eines Autos und begriff sofort, dass das alle Konzentration von ihm forderte. Dennoch bemerkte auch er irgendwann die Stimmung seiner Tochter.
»Was ist denn los?«
»Nichts.«
Der Hauptkommissar hupte aus einem nicht nachvollziehbaren Grund.
»Wenn du Polizistin werden willst, musst du besser lügen lernen.«
Das mochte zwar stimmen, war pädagogisch betrachtet trotzdem Müll.
»Wann darf ich dich wieder sehen?«, fragte Belinda und sah ihren Vater wütend an. »Erst zu meinem Geburtstag?«
Reemund holte sehr tief Luft.
»Du weißt, dass meine Arbeit gefährlich ist. Und sehr viel Zeit braucht.«
»Aus meiner Klasse sagen welche, das ist Blödsinn. Du willst mich garnicht sehen. Polizisten können auch eine Familie haben.«
»Natürlich will ich dich sehen. Du bist meine Tochter. Aber deine Mutter und ich mögen uns nicht mehr. Da ist es doch besser, wenn man sich trennt.«
»Viele Kinder in meiner Schule haben geschiedene Eltern, aber keiner sieht seinen Papa so wenig wie ich. Ich will öfter bei dir sein. Das Wochenende war toll.«
»Wir können ja mal überlegen«, nuschelte Reemund indifferent. »Ich rede mit
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