Der Weg zur Hölle
Deiner Mutter darüber. Aber du hast ja gesehen, wenn ich Dienst habe, bin ich wenig zu Hause.«
»Du hast aber nicht immer Dienst, und Eva ist auch da. Ich mag Eva.«
»Außerdem bin ich kein sehr guter Umgang für Kinder.«
»Ich find dich toll, Papa.«
Reemund presste die Lippen aufeinander, nickte knapp und starrte angestrengt auf die vielen Autos, die sich mit ihm auf der Zubringerstraße zur Stadtautobahn zum allmorgendlichen Stau versammelt hatten.
*
Belindas Schule war ein hohes, rotes Backsteingebäude mit Rohrstock-Charme und großen Fenstern.
Als wir anhielten, griff das Mädchen nach seinem Rucksack, stieg aber nicht aus. Statt dessen sah Belinda mit zornigem Blick einer fröhlich lärmenden Gruppe größerer Kinder hinterher.
»Hast du Ärger mit denen?«, fragte Reemund.
Seine Tochter wandte so schnell den Blick ab, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, auch wenn sie versuchte, das ihrem Vater nicht zu zeigen. Der Kommissar begann, schallend zu lachen. Belinda, der Hund und ich sahen ihn erstaunt an.
»Soll ich dir sagen, was aus den meisten wird, die sich in der Schule wie die Helden fühlen? Langweiler! Heckenschneidende Reihenhausidioten, die sich darüber ärgern, dass der Gartenzwerg vom Nachbarn eine blaue Mütze auf hat, statt einer roten. Also, vergiss es.«
Ich glaube mich zu erinnern, schon nützlichere Ratschläge von Vätern gehört zu haben, aber Belinda hörte ihm mit weit aufgerissenen Augen zu, was durch die hässliche Brille doppelt grotesk wirkte.
»Zumindest die eine Hälfte wird so. Der anderen geht's noch schlimmer. Die wollen auch Reihenhäuser, Hecken und Gartenzwerge, schaffen es aber nicht. Und das sind dann die, die ich irgendwann verhaften muss, weil sie ihren Neid nicht mehr unter Kontrolle haben.«
Belinda hing an den Lippen ihres Vaters.
»Leute wie die sehen nur stark aus. In Wahrheit sind sie schwach.« Das Mädchen nickte weise und Reemund fuhr fort.
»Bloß deshalb gehen die auf Andere los. Wenn jemand nicht so ist wie sie, dann wird ihnen klar, wie einfallslos sie sind, und das wollen sie nicht wahr haben. Verstehst du?«
Belinda nickte noch einmal.
»Und jetzt los. Machs gut.«
Damit öffnete er die Beifahrertür. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und rannte ins Haus.
»Idiot«, sagte ich zu Reemund, der sich im Folgenden eine Zigarette anmachte und wieder losfuhr.
Der Hund leckte mir kurz übers Gesicht, und ich schüttelte mich angewidert. Er nahm es nicht krumm.
Er war gestorben, in dem man ihm ins Gesicht geschossen hatte, und ich fragte mich unwillkürlich, wie viele von den Mikroben, die in seinem Mund gewesen waren, immernoch als Geisterbakterien in ihm steckten.
Ich habe meinen Therapeuten mal gefragt, ob Bakterien auch nach dem Tod bei uns auftauchen. Er bekam einen minutenlangen Lachanfall, was mir nicht half. Als er fertig war, sah er mich an, zeigte mit dem Finger auf mich und begann, erneut zu lachen. Er kugelte und wälzte sich auf dem Boden herum, und es fiel ihm nichtmal auf, dass ich protestierend das Weite suchte.
Ob sich tote Mikroben in Geister verwandeln, weiß ich bis heute nicht. Aber ich bin gern vorsichtig.
* * *
KAPITEL 10 - AUFRICHTIGKEIT
AUFRICHTIGKEIT:die Übereinstimmung der Rede u. der Handlungen mit der Gesinnung; Gegensatz: Lüge (in Worten) u. Falschheit (im Handeln). Doch erlaubt die A. zu verschweigen, was keine bes. Pflicht zu entdecken gebietet, u. unterscheidet sich dadurch von Offenherzigkeit.
(Pierer's Universal-Lexikon, Altenburg, 1857)
Ich halte die Behauptung, dass es so etwas wie Menschenkenntnis gibt, für ein Ammenmärchen.
Also: Natürlich ist da ein bisschen was dran, wie im Übrigen auch an jedem Märchen, außer vielleicht an Dornröschen, an dem wirklich garnichts dran ist. Mal ehrlich, da ist ein goldener Teller zu wenig. Eine Fee darf also nicht kommen. Sie tut es dennoch. Es gibt einen Fluch, der gerade noch ein bisschen abgemildert werden kann, alles schläft seine hundert Jahre ab, und am Ende kommt ein Prinz, dessen einzige Qualität darin besteht, genau in dem Moment aufzutauchen, als die Zeit der Bestrafung ohnehin abgelaufen ist, um ungefragt eine wehrlose Frau zu küssen.
Das, was man gemeinhin Menschenkenntnis nennt, ist eigentlich nichts anderes als die Fähigkeit, sich an die eigenen Dummheiten zu erinnern, verbunden mit der Überzeugung, die bei den Anderen auch zu sehen. Letztendlich liegt man dabei kaum häufiger richtig als die Wettervorhersage. Vielleicht ist das
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