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Der Weg zurück

Der Weg zurück

Titel: Der Weg zurück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E.M. Remarque
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sind jetzt das Modernste. Schick, was?«
    Die Geigen geben die Melodie an das Cello ab. Zitternd, wie ein verhaltenes Weinen, beben sie über den goldbraunen Tönen. »Als ich dich zum ersten Mal angesprochen habe, sind wir beide weggelaufen«, sage ich, »es war im Juni auf dem Stadtwall, ich weiß es noch wie damals.«
    Adele winkt jemand zu. Dann erst wendet sie den Kopf wieder her. »Ja, so was Albernes. Kannst du eigentlich Tango tanzen? Drüben, der Schwarze ist ein fabelhafter Tangotänzer.«
    Ich antworte nicht. Die Musik schweigt. »Willst du etwa an unsern Tisch kommen?«, frage ich.
    Sie sieht hin. »Wer ist der Schlanke da mit den Lackschuhen?«
    »Karl Bröger«, erwidere ich. Sie setzt sich zu uns. Willy bietet ihr ein Glas an und macht einen Witz. Sie lacht und schaut zu Karl hinüber. Ab und zu streift sie auch mit einem Blick Karls Schlittenpferd – es ist das Mädchen mit dem modernen Kleid.
    Ich betrachte sie erstaunt, so hat sie sich verändert. Hat mich die Erinnerung denn auch hier getäuscht? Ist sie gewuchert und gewuchert, bis sie die Wirklichkeit zugewachsen hat? Das ist ja ein fremdes, etwas lautes Mädchen hier am Tisch, das viel zu viel redet. Muss nicht darunter noch jemand anders verborgen sein, den ich besser kenne? Kann sich etwas denn so verschieben, nur weil man älter wird? Vielleicht sind es die Jahre, denke ich, es ist ja über drei Jahre her, damals war sie sechzehn und ein Kind, jetzt ist sie neunzehn und erwachsen. – Und plötzlich überfällt mich die namenlose Schwermut der Zeit – das rinnt und rinnt und verändert sich, und wenn man zurückkehrt, findet man nichts wieder. Ach, Abschiednehmen ist schwer – aber Wiederkommen ist manchmal wohl noch schwerer.
    »Was machst du für ein komisches Gesicht, Ernst?«, fragt Willy, »hast du Kohldampf?«
    »Er ist langweilig«, sagt Adele lachend, »das war er früher auch schon immer. Sei doch mal ein bisschen flott! Das haben die Mädels lieber als so dasitzen wie ein Trauerkloß!«
    Vorbei, denke ich, auch wieder vorbei. Nicht, weil sie mit dem schwarzen Kerl und mit Karl Bröger poussiert, nicht weil sie mich langweilig findet, nicht weil sie anders geworden ist – nein, ich sehe jetzt, dass alles keinen Zweck hat. Ich bin herumgelaufen und herumgelaufen, ich habe an alle Türen meiner Jugend geklopft und wollte wieder hinein, ich dachte, dass sie mich wieder aufnehmen müsste, weil ich doch noch jung bin und es mir so sehr gewünscht hatte, zu vergessen – aber sie huschte vor mir davon wie eine Fata Morgana, sie zerbrach lautlos, sie zerfiel wie Zunder, wenn ich sie anrührte, ich konnte es nicht begreifen, wenigstens hier musste doch etwas geblieben sein, ich versuchte es immer wieder und wurde lächerlich und traurig darüber – doch jetzt erkenne ich, dass ein stiller, schweigender Krieg auch in dieser Landschaft der Erinnerung gewütet hat und dass es sinnlos von mir wäre, weiter zu suchen. Die Zeit steht dazwischen wie eine breite Kluft, ich kann nicht zurück, es gibt nichts anderes mehr, ich muss vorwärts, marschieren, irgendwohin, denn ich habe noch kein Ziel.
    Ich halte mein Schnapsglas umklammert und blicke auf. Da sitzt Adele und fragt Karl immer noch aus, wo man seidene Strümpfe als Schmuggelware kaufen kann – da wird getanzt wie vorher, und die Musik spielt immer noch denselben Walzer aus dem Dreimäderlhaus – und da sitze ich selbst immer noch genauso auf dem Stuhl und atme und lebe wie vorher – ist denn nicht ein Blitz niedergegangen und hat mich weggerissen, ist nicht plötzlich eine Landschaft um mich herum versunken, bin ich nicht übrig geblieben und habe soeben erst wirklich alles verloren?
    Adele steht auf und verabschiedet sich von Karl. »Bei Meyer und Nickel also«, sagt sie vergnügt, »stimmt, die handeln ja mit allerlei hintenherum. Morgen gehe ich mal hin. Wiedersehen, Ernst!«
    »Ich begleite dich ein Stück«, sage ich.
    Draußen gibt sie mir die Hand. »Weiter kannst du nicht mitgehen, ich werde hier erwartet.«
    Ich finde mich töricht und sentimental, aber ich kann mir nicht helfen: Ich nehme die Mütze ab und grüße sie tief, als nähme ich einen großen Abschied – nicht von ihr – von allem Früheren. Sie sieht mich eine Sekunde prüfend an. »Manchmal bist du wirklich komisch.« Singend läuft sie den Weg hinunter.
    Die Wolken haben sich verzogen, und die Nacht steht klar über der Stadt. Ich sehe lange hinüber. Dann gehe ich zurück.
IV
    Im großen Saal von Konersmann

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