Der Weg zurück
kaputtgemacht mit dem ewigen Schlangestehen vor den Geschäften im Winter. Dann kam ein Kind, das konnte sie nicht mehr aushalten.«
»Und das Kind?«, frage ich.
»Auch gestorben.« Er zieht seine schiefe Schulter hoch, als fröre er. »Ja, Ernst, Scheffler ist auch tot, das weißt du ja, nicht?«
Ich schüttle den Kopf. »Wie ist denn das gekommen?« Weddekamp steckt seine Pfeife an. »Er hatte doch siebzehn den Kopfschuss, nicht? War alles tadellos geheilt, damals. Vor sechs Wochen kriegt er auf einmal so blödsinnige Schmerzen, dass er immer mit dem Schädel gegen die Wand rennen will. Wir mussten ihn mit vier Mann zum Krankenhaus bringen. Entzündung oder so was. Am nächsten Tage war’s schon aus.« Er nimmt ein zweites Streichholz. »Ja, und seiner Frau wollen sie jetzt noch nicht mal eine Rente geben.«
»Und Gerhard Pohl?«, frage ich weiter.
»Der kann nicht kommen, Fassbender und Fritsch auch nicht. Arbeitslos. Nicht mal Geld zum Fressen. Wären gerne mitgefahren, die alten Knaben.«
Der Saal hat sich inzwischen zur Hälfte gefüllt. Wir treffen noch viele von unsern Kompaniekameraden, doch es ist sonderbar: die richtige Stimmung will trotzdem nicht aufkommen. Dabei haben wir uns seit Wochen auf dieses Zusammentreffen gefreut und gehofft, es würde eine Befreiung von mancherlei Druck, Unsicherheit und Missverständnissen werden. Mag sein, dass es das Zivilzeug ist, das überall zwischen die Militärbrocken gesprenkelt ist – mag sein, dass Berufe, Familie, soziale Stellungen sich wie Holzkeile hineingeschoben haben: die richtige alte Kameradschaft von früher ist es nicht mehr.
Alles ist vertauscht. Da ist Bosse, der Kompanieschussel, der stets verulkt wurde, weil er sich immer so dämlich anstellte; er war draußen schmierig und verludert, und mehr als einmal haben wir ihn unter die Pumpe gekriegt. Jetzt sitzt er zwischen uns in einem piekfeinen Kammgarnanzug, eine Perle im Schlips und Gamaschen an den Füßen, ein wohlhabender Mann, der das große Wort führt. Und Adolf Bethke neben ihm, der im Felde so turmhoch über ihm stand, dass Bosse froh war, wenn er ihn überhaupt anredete, ist plötzlich nur noch ein armer, kleiner Schuster mit etwas Landwirtschaft. Ludwig Breyer trägt seinen zu knappen, verschabten Schulanzug mit einer schief um den Hals gezerrten Jungenstrickkrawatte statt der Leutnantsuniform; sein ehemaliger Bursche aber klopft ihm behäbig auf die Schulter und ist wieder ein Großinstallateur mit Wasserspülung und flotter Lage an der Hauptgeschäftsstraße. Valentin hat unter der abgerissenen, offenen Uniform einen alten blauweißen Sweater an und sieht aus wie ein Vagabund, aber was war er für ein Soldat – und Ledderhose, dieser krumme Hund, sitzt mit glänzender Dohle und kanariengelbem Gummimantel großspurig dabei und raucht englische Zigaretten. Alles ist durcheinandergeschmissen. Aber das ginge ja noch. Doch auch der Ton ist anders geworden, und das kommt ebenfalls von den Anzügen. Leute, die früher nicht Papp sagen konnten, reden jetzt dicke Töne. Die mit den guten Anzügen haben etwas Gönnerhaftes an sich und die mit den schlechten sind meistens still. Ein Oberlehrer, der Unteroffizier war und ein schlechter dazu, erkundigt sich überlegen nach Karls und Ludwigs Examen. Ludwig sollte ihm dafür sein Bier in den Kragen schütten. Gott sei Dank antwortet Karl ihm äußerst abfällig über Bildung, Examen und so was und preist dafür Geschäft und Handel.
Ich werde ganz krank bei dem Geschwätz hier. Lieber hätten wir uns nie wiedertreffen sollen, dann hätten wir wenigstens die Erinnerung gehabt. Vergeblich versuche ich, mir vorzustellen, dass alle diese Leute wieder schmutzige Uniformen trügen und dass diese Konersmann’sche Kneipe eine Kantine im Ruhequartier wäre. Es gelingt mir nicht mehr. Die Dinge hier sind kräftiger. Das Fremde ist stärker. Das Gemeinsame ist nicht mehr beherrschend. Es ist schon zerfallen in Einzelinteressen. Wohl scheint manchmal noch etwas aus der Zeit von früher hindurch, als wir alle dasselbe Zeug trugen, aber es ist bereits undeutlich und verwaschen geworden. Es sind noch unsere Kameraden, und sie sind es doch nicht mehr, das macht gerade so traurig. Alles andere ist kaputtgegangen im Kriege, aber an die Kameradschaft hatten wir geglaubt. Und jetzt sehen wir: Was der Tod nicht fertiggebracht hat, das gelingt dem Leben: es trennt uns.
Aber wir wollen es nicht glauben. Wir hocken uns an einen Tisch, Ludwig, Albert, Karl, Adolf,
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