Der Weg zurück
ist der Letzte, der verhungert. Und verlobt ist ja noch lange nicht verheiratet.«
Willy hört mit steigendem Interesse zu. »Tjaden«, beginnt er dann, »du weißt, wir waren immer Freunde.«
»Gemacht, Willy«, unterbricht ihn Tjaden, »du kannst ein paar Würste haben. Und meinetwegen auch noch etwas Karbonaden dazu. Komm Montag hin. Wir haben dann weiße Woche.«
»Wieso?«, frage ich erstaunt, »habt ihr denn auch ein Wäschegeschäft?«
»Das nicht, aber wir schlachten dann einen Schimmel.« Wir versprechen fest, zu erscheinen, und trudeln weiter.
Valentin biegt zum Altstädter Hof ein. Dort steigen die Artisten ab. Eine Liliputanergruppe ist gerade beim Abendessen, als wir eintreten. Auf dem Tisch steht Steckrübensuppe: jeder hat dazu ein Stück Brot neben sich.
»Hoffentlich werden wenigstens die satt von ihrem Marken-fraß«, knurrt Willy, »sie haben ja kleinere Bäuche.«
An den Wänden hängen Plakate und Fotografien. Bunte Lappen, halb zerrissen, mit Bildern von Kraftmenschen, Löwenbräuten und Clowns. Sie sind alt und vergilbt, denn in den letzten Jahren war der Schützengraben die Manege für die Gewichtheber, Schulreiter und Akrobaten. Da brauchten sie keine Plakate.
Valentin zeigt auf eins davon. »Das war ich mal.« Ein Mann mit gewölbter Brust schlägt auf dem Bilde einen Salto vom Reck einer Zirkuskuppel. Aber man kann Valentin mit dem besten Willen darin nicht mehr erkennen.
Die Tänzerin, mit der er arbeiten will, wartet schon. Wir gehen in den kleinen Saal des Restaurants. Ein paar Theaterdekorationen lehnen in der Ecke. Sie gehören zu dem Schwank: »Flieg, du kleine Rumplertaube«, einem humorvollen Stück aus dem Leben unserer Feldgrauen mit Refraingesang, das zwei Jahre lang großen Erfolg hatte.
Valentin stellt ein Phonograph auf einen Stuhl und sucht Platten hervor. Eine heisere Melodie krächzt aus dem Trichter, abgespielt, aber noch mit einem Rest von Wildheit, wie die verbrauchte Stimme einer verwüsteten Frau, die ehemals schön war. »Tango«, flüstert Willy mir zu mit der Miene des Kenners, die nicht verrät, dass er eben erst die Aufschrift der Platte gelesen hat.
Valentin trägt eine blaue Hose und ein Hemd, die Frau ein Trikot. Sie üben einen Apachentanz und eine Fantasienummer, bei der das Mädchen zum Schluss mit den Beinen um Valentins Nacken hängt, während er sich dreht, so schnell er kann.
Die beiden üben schweigend, mit ernsten Gesichtern. Nur gelegentlich fällt ein halblautes Wort. Das bleiche Licht der Lampe flackert. Leise zischt das Gas. Die Schatten der Tanzenden schwanken groß über die Dekorationen zur »Rumplertaube«. Willy tappt wie ein Bär hin und her, um den Phonograph aufzuziehen. Valentin hört auf. Willy klatscht Beifall. Missmutig winkt Valentin ab. Das Mädchen zieht sich um, ohne uns zu beachten. Langsam bindet sie sich die Tanzschuhe auf unter der Gaslampe. Geschmeidig biegt sich der Rücken in dem verwaschenen Trikot herunter. Dann richtet sie sich auf und hebt die Arme, um etwas überzustreifen. Licht und Schatten wechseln auf ihren Schultern. Sie hat schöne, lange Beine.
Willy schnüffelt im Saal umher. Er findet ein Textbuch zur »Rumplertaube«. Hinten sind Annoncen angehängt. Ein Konditor empfiehlt darin Bomben und Granaten aus Schokolade, fertig verpackt zum Verschicken in die Schützengräben. Eine sächsische Firma offeriert Brieföffner aus Granatsplittern, Klosettpapier mit Aussprüchen großer Männer über den Krieg – und zwei Ansichtskartenserien: »Soldatenabschied« und »Steh ich in finstrer Mitternacht«.
Die Tänzerin hat sich angezogen. In Mantel und Hut sieht sie ganz fremd aus. Vorhin war sie ein geschmeidiges Tier, aber jetzt ist sie wieder wie alle andern. Man kann fast nicht glauben, dass sie nur die paar Stücke Stoff anzuziehen brauchte, um so zu wechseln. Sonderbar, wie schon Kleider verändern. Wie sehr erst Uniformen.
III
Willy ist jeden Abend bei Waldmann. Das ist ein Ausflugslokal in der Nähe der Stadt, in dem nachmittags und abends getanzt wird. Ich gehe auch hin, denn Karl Bröger hat mir erzählt, Adele wäre manchmal da. Und Adele möchte ich wiedertreffen.
Alle Fenster von Waldmanns Gartensaal sind hell. Die Schatten der Tanzenden gleiten über die heruntergezogenen Vorhänge. Ich stehe an der Theke und schaue nach Willy aus. Sämtliche Tische sind besetzt, nicht ein Stuhl ist mehr frei. In diesen Monaten nach dem Krieg ist eine wahre Raserei ausgebrochen, sich zu amüsieren.
Plötzlich
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