Der Weg zurück
mich ab und sehe über die blonden und dunklen Köpfe hin, die eifrig auf die Worte Lina und Lerche geneigt sind.
Sonderbar – für sie werden diese winzigen Punkte auf der Landkarte nichts weiter mehr als einfacher Lehrstoff sein – ein paar neue Ortsnamen und eine Anzahl Daten zum Auswendiglernen für den Unterricht in der Weltgeschichtsstunde –, ebenso wie der Siebenjährige Krieg und die Schlacht im Teutoburger Walde.
In der zweiten Reihe springt ein Knirps auf und hält sein Heft hoch. Er hat die zwanzig Reihen fertig. Ich gehe hin und zeige ihm, dass er die untere Schlinge beim L etwas zu breit gemacht hat. Er sieht mich mit seinen feuchten, blauen Augen so strahlend an, dass ich einen Augenblick den Blick senken muss. Rasch gehe ich zur Tafel und schreibe zwei Wörter mit einem neuen Buchstaben an. Karl und – eine Sekunde stocke ich, aber ich kann nicht anders, als führte eine unsichtbare Hand die Kreide – Kemmelberg.
»Was ist das, ›Karl‹?«, frage ich.
Alle Finger gehen hoch. »Ein Mann«, schreit der Knirps von vorhin.
»Und Kemmelberg?«, frage ich nach einer kurzen Pause, fast beklommen, weiter.
Schweigen. Endlich meldet sich ein Mädchen. »Aus der Bibel«, sagt es zögernd.
Ich sehe es eine Weile an. »Nein«, antworte ich dann, »das ist nicht richtig. Du hast Ölberg gemeint oder Libanon, nicht wahr?« Das Mädchen nickt verschüchtert. Ich streiche ihm übers Haar. »Dann wollen wir das mal schreiben. Libanon ist ein sehr schönes Wort.«
Nachdenklich wandere ich wieder zwischen den Bänken hin und her. Ab und zu trifft mich über einen Heftrand hinweg ein forschender Blick. Ich bleibe am Ofen stehen und sehe mir die jungen Gesichter an. Die meisten sind brav und mittelmäßig, manche verschmitzt, andere dumm – aber in einigen flackert etwas Helleres. Denen wird im Leben nicht alles so selbstverständlich erscheinen und nicht alles so glatt gehen –.
Plötzlich fasst mich eine große Mutlosigkeit. Morgen werden wir nun die Verhältniswörter durchnehmen, denke ich – und nächste Woche schreiben wir ein Diktat – in einem Jahr könnt ihr fünfzig Fragen aus dem Katechismus auswendig, in vier Jahren beginnt ihr mit dem großen Einmaleins – und ihr werdet wachsen, und das Leben wird euch in seine Zangen nehmen, ein dumpferes oder ein wilderes, ein gemäßigteres oder ein zerbrechendes – ihr werdet eure Schicksale haben, und es wird über euch kommen, so oder so – was kann ich euch da schon helfen mit meiner Konjugation oder der Aufzählung deutscher Flüsse –. Vierzig seid ihr – vierzig verschiedene Leben stehen hinter euch und warten. Könnte ich euch helfen, wie gerne täte ich das! Aber wer kann hier dem andern schon wirklich beistehen? Habe ich auch nur Adolf Bethke helfen können?
Die Klingel schrillt. Die erste Stunde ist zu Ende.
Am nächsten Tag ziehen Willy und ich unsere Cuts an – meiner ist gerade noch rechtzeitig fertig geworden – und machen dem Pastor einen Besuch. Dazu sind wir verpflichtet.
Wir werden freundlich, aber sehr zurückhaltend empfangen, denn durch unsern Schulaufruhr haben wir in soliden Kreisen einen ziemlich schlechten Ruf gekriegt. Abends wollen wir noch den Gemeindevorsteher aufsuchen, denn dazu sind wir ebenfalls verpflichtet. Wir treffen ihn jedoch schon in der Kneipe, die gleichzeitig Poststube ist.
Er ist ein listiger Bauer mit verfälteltem Gesicht, der uns als Erstes ein paar große Schnäpse anbietet. Wir nehmen an. Augenzwinkernd kommen jetzt zwei, drei andere Bauern dazu, begrüßen uns und laden uns ebenfalls zu einem Glase ein. Höflich stoßen wir mit ihnen an. Sie plieren und linsen sich hinter den Händen zu – die armen Hühner –, wir haben natürlich sofort gemerkt, dass sie uns besoffen machen wollen, um ihren Spaß zu haben. Sie scheinen das schon öfter probiert zu haben; denn sie erzählen schmunzelnd von anderen jungen Lehrern, die hier gewesen wären. Sie glauben aus drei Gründen, dass wir bald umfallen werden: erstens weil Städter nach ihrer Meinung weniger vertragen als sie – zweitens weil Schulmeister gebildet und deshalb im Saufen von vorne-herein schwächer sind – drittens weil so junge Burschen noch keine richtige übung besitzen können. Das mag auch bei den früheren Seminaristen, die sie hier gehabt haben, richtig gewesen sein; aber bei uns rechnen sie mit einem nicht: dass wir ein paar Jahre Soldaten waren und den Schnaps kochgeschirrweise getrunken haben. Wir nehmen den Kampf auf. Die
Weitere Kostenlose Bücher