Der Weg zurück
wollten das Meer sehen und den Wind fühlen – aber wir dachten nicht daran, dass Häuser ein Fundament brauchen. Wir waren wie die verlassenen Trichterfelder in Frankreich – sie sind ebenso still wie die Äcker ringsum, aber in ihnen sitzt noch die verschüttete Munition – und so lange ist der Pflug gefährlich und gefährdet, bis sie ausgegraben und fortgeräumt ist.
Wir sind immer noch Soldaten, ohne es gewusst zu haben. Wäre Alberts Jugend friedlich und ohne Bruch gewesen, so hätte er vieles gehabt, das warm und vertraut mit ihm gewachsen und ihn gehalten und bewahrt hätte. So aber war alles zerbrochen, er hatte nichts mehr, als er wiederkam – seine ganze verdrängte Jugend, seine geknebelt gewesene Sehnsucht und sein Bedürfnis nach Heimat und Zärtlichkeit warf sich blind auf diesen einen Menschen, den er zu lieben glaubte. Und als alles zerbrach, wusste er nichts anderes, als zu schießen – denn sonst hatte er nichts gelernt. Wäre er kein Soldat gewesen, so hätte er viele andere Wege gehabt. So aber zitterte nicht einmal seine Hand – er war seit Jahren gewohnt, zu treffen.
In Albert, dem verträumten Jungen, in Albert, dem scheuen Liebenden, saß immer noch Albert, der Soldat.
Die zerknitterte, alte Frau begreift es nicht. »Wie konnte er das nur tun? Er war immer so ein stilles Kind!« Die Bänder ihres Altfrauenhutes zittern, das Taschentuch zittert, die schwarze Mantille zittert – die ganze Frau ist ein einziges bebendes Stück Leid. »Vielleicht ist es gekommen, weil er keinen Vater mehr hat. Er war erst vier Jahre, als sein Vater starb. Aber er war doch immer ein so stilles, gutes Kind –«
»Das ist er heute auch noch, Frau Troßke«, sage ich. Sie klammert sich daran und beginnt von Alberts Kindheit zu erzählen. Sie muss sprechen, sie hält es nicht mehr aus, die Nachbarn waren da, Bekannte, zwei Lehrer auch, alle verstehen es nicht –
»Die sollen nur ihren Schnabel halten«, sage ich, »die sind alle mit schuld.«
Sie blickt mich verständnislos an. Aber dann erzählt sie weiter davon, wie Albert laufen gelernt hat, dass er nie geschrien hat wie andere Kinder, dass er fast zu ruhig war für einen Jungen – und jetzt so etwas. Wie konnte er das nur tun?
Verwundert sehe ich sie an. Sie weiß nichts von Albert. Vielleicht würde es meiner Mutter genauso mit mir gehen. Mütter können wohl nur lieben, das ist ihr einziges Verständnis.
»Bedenken Sie, Frau Troßke«, sage ich behutsam, »Albert ist doch im Kriege gewesen.«
»Ja«, antwortet sie, »ja – ja –« Sie fasst den Zusammenhang nicht. »Dieser Bartscher war wohl ein schlechter Mensch?«, fragt sie dann leise.
»Er war ein Lump«, bestätige ich ohne Weiteres, denn darauf soll es mir nicht ankommen.
Sie nickt unter Tränen. »Sonst konnte ich es mir auch nicht denken. Er hat nie einer Fliege etwas getan. Hans, der hat ihnen die Flügel ausgerissen, aber Albert nie. Was werden sie nun wohl mit ihm machen?«
»Viel kann ihm nicht passieren«, beruhige ich sie, »er war sehr aufgeregt, und das ist beinahe so wie Notwehr.«
»Gott sei Dank«, seufzte sie, »der Schneider über uns hat gesagt, er würde hingerichtet.«
»Der Schneider ist verrückt«, erwidere ich.
»Ja, er hat auch gesagt, Albert wäre ein Mörder.« Sie bricht aus. »Und er ist nie und nimmer einer, nie und nimmer!«
»Diesen Schneider werde ich mir mal kaufen«, erkläre ich wütend.
»Ich traue mich gar nicht mehr aus dem Hause«, schluchzt sie, »immer steht er da.«
»Ich bringe Sie hin, Mutter Troßke«, sage ich.
Wir kommen bei ihrem Haus an. »Da ist er wieder«, flüstert die alte Frau ängstlich und zeigt auf die Haustür. Ich mache mich steif. Wenn er jetzt einen Ton sagt, haue ich ihn zu Brei, und wenn ich zehn Jahre dafür in den Kasten komme. Aber er geht uns aus dem Wege, ebenso wie zwei Weiber, die bei ihm herumlungern.
In der Wohnung zeigt Alberts Mutter mir noch ein Jugendbild von Hans und ihm. Dabei beginnt sie von Neuem zu weinen, doch sie hört wie beschämt gleich wieder auf. Alte Frauen sind darin wie Kinder; Tränen kommen ihnen rasch; aber sie versiegen auch rasch. Auf dem Korridor fragt sie mich: »Hat er wohl genug zu essen?«
»Sicher wohl«, antworte ich, »Karl Bröger wird schon darauf aufpassen. Der kann genug bekommen.«
»Ich habe noch etwas Pfannkuchen, den isst er so gern. Ob ich ihm den wohl bringen darf?«
»Versuchen Sie es mal«, erwidere ich, »und wenn Sie es dürfen, dann sagen sie einfach zu
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