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Der Weihnachtsfluch - Roman

Der Weihnachtsfluch - Roman

Titel: Der Weihnachtsfluch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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entlang und beim nächsten Leuchten des Blitzes erkannte sie die stattliche Gestalt Father Tyndales, der den Schluss der Menschenkette bildete. »Ich werde dem Father Brot und Whiskey bringen«, schlug sie vor. »Oder trinkt er …«
    Maggie zwang sich zu lächeln. »Oh, doch. Dagegen hat er bestimmt nichts«, versicherte sie Emily. »Die Kälte geht ihm genauso in die Knochen wie allen anderen auch.«
    Mit einem kurzen Lächeln machte sich Emily auf den Weg. Sie kämpfte gegen den Wind, der an ihr zerrte und zog, bis sie sich ganz mitgenommen fühlte, aber sie
stampfte weiter durch den feinen Sand. Der Lärm war ohrenbetäubend. An der abfallenden Küste konnte sie ungefähr einschätzen, wo sie sich befand, und ab und zu, wenn der Wind die Gischt zu ihr trieb, musste sie weiter hochklettern. Sie war schon ganz nass. Der Donner wurde vom Tosen der Brandung verschluckt, und jeder Blitz tauchte die ganze Küste in gespenstisches, geisterhaftes Licht.
    Sie erreichte Father Tyndale und rief ihm zu, gerade in dem Augenblick, als eine riesige Welle hereinrollte und er sie deshalb unmöglich hören konnte. Sie reichte ihm den Whiskey und das Brot. Er lächelte, nahm es gerne an und schluckte den Brand hinunter. Er schüttelte sich, als das Feuer den Hals hinunterlief. Er packte das Brot aus, aß es gierig auf und kümmerte sich nicht weiter um die Gischt und den peitschenden Regen, der das Brot sicher schon aufgeweicht hatte. Selbst in der erdrückenden Finsternis zwischen den Blitzen schien er nie den Blick vom Meer abzuwenden.
    Sie blickte auf den Weg, den sie gekommen war und sah die Lichterkette. Jede Laterne war nun ganz ruhig, so als ob sie ganz fest gehalten würde. Keiner schien sich zu bewegen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, oder wie lange es her war, seit sie aufgewacht war und das Schiff gesehen hatte.
    Kam das jeden Winter vor? Hatten sie deshalb alle mit solchem Schrecken vom Sturm gesprochen, von den Nächten, in denen die See ihre Toten ausspuckte? Vielleicht war ja jemand Bekanntes aus den Nachbarorten dabei.

    Der Wind war noch nicht abgeflaut, ganz und gar nicht, aber es gab jetzt Intervalle zwischen den Blitzen und dem darauffolgenden Donner. Sehr langsam zog der Sturm vorüber.
    Dann, nach drei den ganzen Himmel erleuchtenden Blitzen wurden zwei Laternen in die Höhe gehalten und so geschwungen, dass sie ein Signal gaben. Father Tyndale ergriff Emilys Arm, zog sie mit sich und rannte durch den Sand taumelnd los. Sie hastete hinter ihm her und hielt ihre Laterne ganz fest in der Hand.
    Als sie die Stelle erreichten, von der aus die Signale kamen, hatten sich vier Männer schon angeseilt und der Anführer kämpfte sich gegen die Wellen weiter ins Meer hinaus. Die Brandung schlug ihm entgegen, aber jeder Blitz machte deutlich, dass er ein Stück weitergekommen war.
    Das Warten schien schier endlos zu sein, obwohl es in Wirklichkeit wahrscheinlich kaum mehr als zehn Minuten dauerte, bis die Männer die Seile zurückzogen und auf dem Strand immer weiter nach hinten bis zu der mit Unkraut bewachsenen Küste zurückwichen. Die Frauen drängten sich aneinander und leuchteten mit ihren Laternen auf die durchnässten Männer, die einer nach dem anderen an Land gezogen wurden, völlig erschöpft, auf den Knien nach Luft schnappten und sich wieder umwandten, um den anderen hinter ihnen zu helfen.
    Der letzte der Männer, Brendan O’Flaherty, trug jemanden auf seinen Armen. Andere reichten ihm die Hände, um zu helfen. Er ging stolpernd über den Sand und legte den Körper außer Reichweite des Wassers
sanft ab. Father Tyndale klopfte ihm auf die Schulter, rief ihm etwas zu, das im Wind und in den tosenden Wellen unterging, und beugte sich dann über den Körper.
    Emily sah die Gesichter der Männer, als sie im Halbkreis dastanden. Das gelbe Licht der Laternen beschien ihre Gesichtszüge von unten, zeigte ihr nasses, zerzaustes Haar, ihre dunklen Augen. Sie wussten alle, was Tod und Verlust bedeuteten, und hatten Mitgefühl. Sie aber wurde, mehr als alles andere, von dem unter die Haut gehenden Gefühl der Angst berührt.
    Sie blickte auf den Körper hinab. Es war der eines jungen Mannes, etwa Ende zwanzig. Sein Gesicht war aschfahl, um die Augen und Lippen herum bläulich. Im Schein der Laterne sah sein Haar schwarz aus, klebte am Kopf und verteilte sich über die Augenbrauen. Er war recht groß, und unter der Seemannsjacke und den derben Hosen war er wohl eher schlank. Aber vor allem sah er gut aus.

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