Der Weihnachtsfluch - Roman
die Türe, aber niemand antwortete. Sie ging ein Stück zurück, fand ein paar Kieselsteine im Garten und warf sie an das größte Fenster. Wenn sie es zerbrach, würde sie sich entschuldigen oder sogar dafür aufkommen. Sie hätte jedes Fenster im Haus zerschlagen, wenn sie dadurch eine Chance bekäme, einem dieser Männer draußen in der Bucht zu helfen.
Sie warf die Steine mit Wucht ans Fenster und hörte, wie sie klapperten. Der letzte schlug beunruhigend laut auf die Scheibe.
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und Fergal stand mit Schrecken im Gesicht und zerzaustem Haar vor ihr. Er erkannte Emily sofort.
»Geht es Mrs. Ross schlechter?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Nein. Nein, in der Bucht ist ein Schiff untergegangen«,
sagte Emily noch ganz außer Atem. »Mrs. Ross meinte, Sie wüssten, was zu tun ist, falls es noch Überlebende gibt.«
In seinem Gesichtsausdruck zeigte sich plötzlich Angst, und er stand bewegungslos in der Tür.
»Können Sie helfen?« Ihre Stimme versagte vor lauter Panik.
Er sah aus, als habe sie ihn geschlagen. »Ja. Ich sage Maggie Bescheid, damit sie die anderen holt. Ich gehe zur Küste, falls …« Er beendete den Satz nicht.
»Kann denn jemand so was überhaupt überleben?«
Er gab ihr keine Antwort, ging ins Haus zurück und ließ die Türe weit auf, damit sie ihm folgen konnte. Kurz darauf kam er in seiner Kleidung die Treppe herunter, und Maggie war hinter ihm.
»Ich werde möglichst alle holen«, sagte sie, nachdem sie Emily kurz zugenickt hatte. »Du gehst an den Strand. Ich besorge Decken und Whiskey, und wir kommen damit nach. Geh jetzt!«
Kreidebleich griff er nach einer Laterne und trat in die Nacht hinaus. Emily sah Maggie an.
»Kommen Sie mit mir mit«, sagte Maggie ohne zu zögern. »Wir holen, wen wir können.« Sie zündete eine Laterne an, warf ihren Umhang um und ging hinaus. Zusammen kämpften sie sich die Straße entlang, auch wenn es hier nicht so schlimm wie an der Küste war. Maggie deutete auf ein Haus und sagte Emily, wer dort wohnte, während sie zum nächsten weiterging. Nach und nach riefen und klopften sie, warfen manchmal Steine und fanden so fast ein Dutzend Männer, die zum
Strand hinuntergingen, und genauso viele Frauen, die Decken, auf dem Ofen warm gemachte Suppen, Brot und Whiskey zusammentrugen.
»Könnte eine lange Nacht werden«, sagte Maggie trocken mit düsterem Gesicht. In ihren Augen standen Angst und Mitleid. Zu zweit und zu dritt machten sie sich auf den Weg über die begrasten und sandigen Hügel. Emily war irritiert, weil sie so viele Häuser ausgelassen hatten. »Kommen die nicht mit?«, rief sie laut gegen den Lärm an. »Wenn Menschen ertrinken, will doch jeder helfen. Soll ich zurückgehen und es noch einmal versuchen?«
»Nein.« Maggie nahm sie am Arm, als wollte sie Emily weiter in den Wind hineintreiben. Sie waren jetzt näher am Wasser und hörten das kräftige Dröhnen, wie das Brüllen eines wilden Tieres.
»Aber …«, fing Emily an. »Da wohnt niemand mehr«, rief Maggie zurück. »Sind alle weg.«
»Alle?« Das konnte doch nicht sein. Es war ja das halbe Dorf. Dann erinnerte sich Emily daran, dass ihr Father Tyndale schon bedauernd gesagt hatte, wie wenige Leute jetzt noch im Ort wohnten. Emily überkam ein Gefühl der Leere. Das Dorf war am Aussterben. Das war es, was er hatte sagen wollen.
Die Blitze leuchteten am Himmel, und sie konnte die Macht des Meeres direkt vor sich sehen. Seine Kraft und seine Gewalt machten ihr Angst und faszinierten sie gleichzeitig. Sie spürte eine Art Bedauern, als die Blitze erloschen und sie außer den hin und her tanzenden
gelben Laternen nichts mehr sehen konnte. Vielleicht noch die Falte eines Rockes, ein Hosenbein und die wogende Bewegung des Sandes und des Grases unter ihr. Mehrere Männer hatten lange Seile dabei. Wofür wohl?
Am Strand bildeten sie eine Kette, einige waren so dicht am unbändigen Schaum des Wassers, dass sie gar nicht hinzusehen vermochte. Was konnten sie denn tun? Selbst mit dem allerbesten Boot konnte man jetzt nicht in See stechen. Sie würden vernichtet werden, würden kentern und in die Tiefe gezogen werden, noch bevor sie fünfzig Meter draußen wären. Damit war niemandem geholfen.
Sie sah Maggie an.
Maggie blickte aufs Meer, aber selbst in dem schwankenden Schein der Laterne konnte Emily ihre Angst sehen, die weit geöffneten Augen, die angespannten Kinnmuskeln, den schnellen Atem.
Sie wandte den Blick wieder ab, sah am Ufer
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