Der Weihnachtsfluch - Roman
geben.«
»Ich werde nicht dorthin fahren!«, rief sie fassungslos aus.
Er sagte nichts, sondern blickte sie nur fest an.
»Lächerlich«, protestierte sie. »Ich kann doch um Himmels willen nicht nach Connemara reisen. Schon gar nicht an Weihnachten. Es wäre so, als würde ich mich ans Ende der Welt begeben. Es ist das Ende der Welt. Jack, da gibt es nur eisiges Moor!«
»Also, ich glaube das Klima an der Westküste Irlands ist relativ gemäßigt«, wandte er ein. »Allerdings kann es auch feucht sein«, fügte er lächelnd hinzu.
Sie seufzte. Sein Lächeln betörte sie immer noch. Das sollte er aber möglichst nicht merken, weil es sonst vielleicht schwierig wäre, standhaft zu bleiben. Sie drehte sich um und legte den Brief auf den Tisch. »Morgen schreibe ich Thomas und erkläre es ihm.«
»Was willst du ihm denn sagen?«
Sie war überrascht. »Natürlich, dass es nicht infrage kommt. Aber ich werde es ihm in freundlichen Worten beibringen.«
»Wie bitte schön kann man denn freundlich ausdrücken,
dass du deine Tante an Weihnachten alleine sterben lassen willst, weil dir das irische Klima nicht behagt?«, fragte er mit betont sanfter Stimme, wobei er jedes seiner Worte genau abwog.
Emily erstarrte. Sie drehte sich wieder zu ihm um und blickte ihn an. Trotz seines Lächelns wusste sie, dass er meinte, was er gesagt hatte. »Willst du mich wirklich die ganze Weihnachtszeit über nach Irland schicken? Susannah ist erst fünfzig. Sie lebt womöglich noch Jahre. Er hat ja nicht mal gesagt, was ihr überhaupt fehlt.«
»Man kann in jedem Alter sterben«, wies er sie zurecht. »Was ich will, hat nichts damit zu tun, was richtig ist.«
»Und die Kinder?« Sie spielte ihren letzten Trumpf aus. »Was werden sie denken, wenn ich sie an Weihnachten allein lasse? Zu dieser Zeit sollte die Familie zusammen sein.« Sie erwiderte sein Lächeln.
»Dann schreibe deiner Tante, sie soll alleine sterben, weil du bei deiner Familie bleiben willst«, antwortete er. »Wenn ich’s mir genauer überlege, wirst du dem Pfarrer schreiben müssen, und der kann es ihr dann sagen.«
Diese schreckliche Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. »Du willst also, dass ich fahre!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Nein, wirklich nicht«, leugnete er. »Aber wenn Susannah gestorben ist, will ich auch nicht die ganzen Jahre danach mit dir und deinem schlechten Gewissen leben müssen, weil du bereust, nicht gefahren zu sein. Schuld kann selbst das, was einem am liebsten ist, zerstören. Ja gerade das, was man besonders liebt.« Er strich ihr sanft über die Wange. »Ich will dich nicht verlieren.«
»Das wirst du auch nicht!«, wandte sie eilig ein. »Du wirst mich niemals verlieren.«
»Viele Menschen verlieren einander.« Er schüttelte den Kopf. »Einige verlieren sogar sich selbst.«
Sie blickte auf den Teppich. »Aber es ist doch Weihnachten!«
Er antwortete nicht.
Sekunden tickten vorbei. Das Feuer knisterte im Kamin.
»Glaubst du, es gibt Telegramme in Irland?«, fragte sie schließlich.
»Ich weiß es nicht. Was kannst du denn in einem Telegramm schon sagen, das eine Antwort auf das Problem wäre?«
Sie atmete tief ein. »Wann mein Zug in Galway ankommt und an welchem Tag.«
Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Sie musste weinen bei dem Gedanken, was sie alles in den nächsten Wochen vermissen würde und was Weihnachten für sie bedeutete.
Zwei Tage später, als der Zug schließlich kurz vor Mittag im Bahnhof von Galway einfuhr, trat Emily bei Nieselregen auf den Bahnsteig und befand sich in einer völlig anderen Stimmung. Nach der Überfahrt auf der rauen irischen See und der Nacht in einem Dubliner Hotel fühlte sie sich sehr müde, und ihre Glieder waren steif. Hätte Jack auch nur die leiseste Ahnung, was er ihr abverlangte, wäre er nicht so anmaßend gewesen. Solche Opfer sollte niemand von einem verlangen. Schließlich
war es ja Susannah gewesen, die den Entschluss gefasst hatte, sich von ihrer Familie abzuwenden, einen römisch-katholischen Mann zu ehelichen, den niemand kannte, und in dieser Moorlandschaft zu leben, wo es immerzu regnete. Sie war nicht mal nach Hause zurückgekehrt, als Emilys Vater gestorben war! Natürlich hatte man sie auch nicht darum gebeten. Emily musste sich sogar eingestehen, dass es durchaus möglich war, dass ihr nicht einmal jemand mitgeteilt hatte, dass er krank war.
Der Gepäckträger lud ihr Gepäck aus und stellte es auf den Bahnsteig. Sie hatte ihn nicht darum
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