Der Weihnachtspullover
vermisst doch deinen Dad ganz schrecklich, nicht wahr, Eddie?«
Ich fragte mich, woher er von meinem Vater wusste, aber in diesem Augenblick war ich viel zu neugierig, worauf er hinauswollte. »Schon«, erwiderte ich verhalten.
»Nun, du denkst viel an ihn, aber wie oft erinnerst du dich an die Gefühle , die du hattest, als er noch am Lebenwar? Wenn du jetzt an ihn denkst, dann stellst du dir vor, wie er in einem Krankenhausbett liegt oder in einem Sarg bei seiner Beerdigung. Du hast Träume durch Alpträume ersetzt.«
Das ließ sich nicht wegargumentieren. Ich schaute zu der Stute hinüber.
»Das Gleiche hast du mit deiner Mutter gemacht. Du hast die guten Erinnerungen an Pfannkuchen und Lachen durch schlechte Erinnerungen an einen Streit und an einen Autounfall ersetzt. Du musst damit aufhören, so viel nachzudenken, und stattdessen wieder anfangen zu fühlen, selbst wenn«, er hielt für einen Moment inne und sagte dann, »nein, vor allem, wenn es wehtut.«
Ein Bild schoss mir durch den Kopf, und ich sah meine Mutter in ihrem Sarg liegen, wie ich es schon so viele, viele Male vor mir gesehen hatten. Doch nun vermochte ich dieses Bild zum ersten Mal, seit sie gestorben war, beiseitezuschieben und es durch das zu ersetzen, was ich fühlte. Ich empfand Zufriedenheit und Wärme, Freude und Leid – aber vor allem empfand ich eine große Sehnsucht, sie wiederzusehen. Zum ersten Mal fühlte ich, wie sehr ich sie vermisste.
»Eddie, deine Eltern haben gute Arbeit geleistet und dir beizubringen versucht, wie man das Leben meistert. Sie haben dir gezeigt, dass, egal, was auch geschieht, am Ende alles gut wird. Aber sieh doch nur, was du mit diesenLektionen angestellt hast: Du hast sie zu einem Ball zerknüllt und zu Boden geworfen.«
Ich blickte zur Seite. Ich wusste, dass er recht hatte.
»Du lebst nicht in der Gegenwart, Eddie – du lebst in der Vergangenheit. Man muss das Leben formen und gestalten, wie man es haben will, aber du hast genau das Gegenteil getan, du hast zugelassen, dass das Leben stattdessen dich formt. Du weißt nicht, wer du wirklich bist, weil du im Augenblick niemand bist. Du bist innerlich leer.«
Wie bitte? Ich schäumte vor Wut. Wie konnte Russell nur so etwas behaupten? Ich wusste ganz genau, wer ich war. Und ich wollte ihn gerade daran erinnern, aber er interessierte sich nicht für meine Reaktion, denn er fuhr einfach fort: »Die beiden mächtigsten Worte in jeder Sprache lauten: ›Ich bin.‹ Diese beiden Worte beinhalten die gesamte Schöpferkraft des Himmels. So lautete Gottes Antwort, als Er aus dem brennenden Busch auf Moses’ Frage ›Wie soll ich meinem Volk erklären, wer du bist?‹, antwortete: ›Ich bin, der ich bin.‹ Das ist der Name Gottes.«
»Ich glaube nicht an Gott.«
Russell betrachtete mich für einen kurzen Moment nachdenklich. »Es tut ihm leid, das zu hören. Vielleicht liegt es daran, dass du dich auf seinen Namen berufen hast, um etwas zu erschaffen, was du nicht bist – eine Realität, die nur durch dich existiert.«
Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Er musste wohl den verwirrten Ausdruck auf meinem Gesicht bemerkt haben.
»Eddie, wann hast du das letzte Mal ehrlich gedacht: ›Ich bin glücklich, ich bin stark, ich bin ein guter Mensch, ich verdiene es, geliebt zu werden‹?« Seine Stimme war machtvoll, gebieterisch.
Mein Schweigen sagte mehr als tausend Worte.
»Du hast viel zu viel Zeit damit verbracht, dich in etwas zu verwandeln, was du nicht bist: ein Opfer. Niemand kann dich zu einem Opfer machen, das kannst nur du allein ... und du hast es getan. Aber du kannst noch eine andere Wahl treffen – du kannst dich entscheiden, ein Überlebender zu sein.«
Eine Flut von Erinnerungen brach über mich herein.
Dad, der mir auf der Straße vor unserem Haus beizubringen versuchte, wie man einen Drachen steigen lässt. Und jedes Mal, wenn er ihn zum Fliegen gebracht hatte, kam wieder ein Auto um die Ecke gebogen, und der Drachen fiel im Sturzflug auf den Asphalt.
Ich versuchte, die Erinnerung wegzuschieben.
Dad und ich, wie wir zusammen Football im Garten spielten. Er konnte den Ball so weit werfen, dass ich in den Nachbarsgarten laufen musste, um ihn zu fangen.
»Fühle, Eddie, fühle .«
Dad und ich, wie wir zusammen mitten auf der Straßedurch den Schnee spazierten und die Laterne sein Gesicht dabei zum Glühen brachte.
Plötzlich kam es mir so vor, als hätte ich einen Stein im Magen liegen.
»Nicht denken, mein Junge, fühlen
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