Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
hatte sie ein kleines Kind. Sie trug ein großes, volles Einkaufsnetz, dessen Träger die Schulter einschnürten. Wegen des Gewichts ging sie leicht gebeugt und hinkte etwas, obwohl sie, wie er an ihrer schlanken Figur sehen konnte, kaum älter war als er.
Narraway beschleunigte seine Schritte und holte sie ein.
»Madam!«, sprach er sie lauter an als beabsichtigt.
Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Die schmutzigen Hände ihres Kinds hatten auf einer Wange ihres hageren Gesichts Spuren hinterlassen, aber ansonsten war ihre Haut glatt und makellos.
»Ja?«, fragte sie, ohne Neugier zu zeigen, aber in ihren sorgenvollen Augen lag so etwas wie Angst.
»Darf ich Ihnen beim Tragen behilflich sein? Ich muss in dieselbe Richtung wie Sie.« Ein »Bitte«, fügte er noch hinzu. Er lächelte sie an. »Der heutige Tag war für mich bisher ohne Nutzen. So könnte ich das ändern.«
Auch auf ihrem Gesicht erschien nun ein strahlendes Lächeln. Dadurch verschwand alle Müdigkeit. Nun bemerkte er, dass sie wahrscheinlich tatsächlich höchstens dreißig war und sehr schön.
»Danke, Leutnant.« Sie wollte das Kind absetzen, um ihm das Netz zu geben, aber er hatte ihr schon die Last abgenommen. Er war erstaunt, wie schwer die Einkäufe waren. Kein Wunder, dass sie so langsam gegangen war. Die Schnüre hatten ihr sicher wehgetan.
Sie gingen langsam weiter.
»Sie sind neu hier«, bemerkte sie, den Blick nach vorne. Das Kind auf ihrem Arm war sicher noch nicht einmal zwei Jahre alt, konnte aber bestimmt schon laufen, aber nicht so weit und auch nicht im Tempo der Mutter. Mit seinen goldbraunen Augen und den langen Wimpern blickte es ihn ehrfurchtsvoll an. Seine Haare waren so lang, dass Narraway sich nicht sicher sein konnte, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.
»Sieht man mir das etwa an?«, antwortete er auf die Frage, ob er neu sei. »Oder kennen Sie hier jeden?«
»Die meisten schon. Natürlich kommen und gehen viele auch, vor allem gerade jetzt.« Sie hatte nun einen traurigen Gesichtsausdruck. »Aber Sie sehen blasser aus, so als wären Sie während der Hitze im Sommer noch nicht hier gewesen.« Dann errötete sie, weil sie sich wegen der Taktlosigkeit schämte, eine so persönliche Bemerkung gemacht zu haben. »Es tut mir leid.«
»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen. Wahrscheinlich steche ich heraus wie ein Wachskopf.«
Sie musste über das Bild lachen. »Wenn ich Sie das nächste Mal auf dem Exerzierplatz sehe, werde ich an den Wachskopf denken«, sagte sie fröhlich. »Der Stabsmajor könnte das als Anregung nehmen, um die Soldaten so zu beschimpfen. Außer – Sie sind ja, wie ich sehe, Leutnant. Sie werden wohl kaum auf Befehl herummarschieren müssen.«
»Jedenfalls nicht so, wie Sie meinen. Allerdings fühle ich mich oft so, als ob ich immerzu im Kreis marschiere, Befehlen gehorche und nichts wirklich bewirke.«
Sie blickte ihn neugierig an. »So ist das Leben beim Mili tär. Zumindest hat das mein Mann auch immer gesagt.«
Sie hatte in der Vergangenheit gesprochen, und er bemerkte einen Anflug von Schmerz, sah, wie sie ihre Arme fester um das Kind schlang. Etwas zu erwidern, schien ihm wenig hilfreich, wenn nicht sogar sinnlos zu sein, deshalb ging er schweigend eine Weile neben ihr her. Dann kam ihm ein furchtbarer Gedanke. War ihr Mann womöglich unter den Soldaten auf Patrouille gewesen, die durch Dhuleep Singhs Verrat getötet worden waren? Plötzlich überkam ihn das starke Gefühl, dass er die Antwort nicht ertragen könnte. Er konnte ihr nicht sagen, wer er war, und das beschämte ihn. Es war wie ein neuer und schärferer Schnitt, der seinen Glauben an sich selbst zusätzlich verletzte. Wie schrecklich einsam würde er nach der Verteidigung von John Tallis sein, ganz abgesehen von der Tatsache, dass er den Befehl dazu bekommen hatte, und Tallis nicht hingerichtet werden konnte, ohne dass wenigstens formal Gerechtigkeit ausgeübt wurde.
Er hatte versucht, ein paar Fragen über Tallis zu formulieren, damit er ein wenig über die Hintergründe erfuhr. Jetzt blieben ihm die Worte im Hals stecken. Die Griffe des Einkaufsnetzes schnitten in seine Hand ein. Er fragte sich, was wohl darin war. Sicher Obst, Gemüse, Reis, Lebensmittel für sie und das Kind. Würde sie eines Tages wieder heiraten? Würde sie noch einmal Kinder bekommen, oder würde dieses Kind alleine aufwachsen?
Er hätte gern mit ihr gesprochen. Es mochte kaltherzig sein, nebeneinander zu laufen und nichts zu
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