Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
sagen, aber das Bewusstsein darüber, was in den nächsten Tagen kommen würde, und wie anders sie ihn dann sehen würde, ließ ihn schweigen. Wie lange würde es dauern, bis er alles überwunden hätte? Der Mann, der versuchte, John Tallis zu verteidigen! Würde er den Leuten hier so in Erinnerung bleiben?
Sie blieb am Tor eines der Häuser stehen, das zumindest von außen genau wie alle anderen aussah.
»Vielen Dank«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln. Sie beugte sich nach unten, um das Kind abzusetzen. Es stand unsicher auf seinen Füßen, bevor es das Gleichgewicht erlangte, und setzte sich dann doch ganz unvermittelt auf den Boden.
»Ich trage Ihnen die Tasche noch bis zum Eingang. Dann können Sie es wieder tragen.« Er deutete auf das Kind, das einen erfolglosen Versuch unternahm, wieder aufzustehen.
»Sie – es ist ein Mädchen«, korrigierte sie ihn. »Danke.« Sie nahm das Kind wieder auf den Arm.
Narraway folgte ihr den Weg entlang. Sie waren noch ein paar Meter von der Verandatreppe entfernt, als die Eingangstür aufschwang und ein Junge von ungefähr fünf Jahren mit einem rot leuchtenden Papierband in der Hand herausgerannt kam.
»Mama!«, rief er triumphierend. »Ich habe drei Girlanden gebastelt! In allen Farben. Und Helena hat auch eine gemacht. Die ist nicht so schön wie meine, aber ich hab ihr gezeigt, wie’s geht.«
»Das ist ja wunderbar.« Sie lächelte ihn an. Er hatte lockiges braunes Haar wie sie, aber große dunkle Augen, die wohl von seinem Vater stammten. »Helena! David hat gesagt, dass du auch eine Girlande gemacht hast. Komm und zeig sie mir.«
Ein etwa dreijähriges Mädchen stand in der Tür und blickte Narraway misstrauisch an.
»Komm her!«, ermunterte ihre Mutter sie.
Langsam tippelte sie über die Veranda und nahm dann jede Stufe einzeln. Sie zog eine leuchtend blaue Papierkette hinter sich. Unten angekommen ging sie zu ihrem Bruder. Sie zeigte die Kette ihrer Mutter, aber ihr neugieriger und vorsichtiger Blick richtete sich die ganze Zeit auf Narraway.
Er betrachtete die Girlande. »Die ist aber schön«, sagte er feierlich zu ihr. »Hast du die wirklich ganz alleine gemacht?«
Sie nickte.
»Dann bist du ja richtig begabt.«
Langsam und schüchtern lächelte sie, und ihre weißen Milchzähne kamen zum Vorschein.
»Die sind für Weihnachten«, erklärte der Junge. »Wir wollen sie im Haus aufhängen.«
»Das wird sicher wunderschön.«
»Feierst du auch Weihnachten?«, fragte ihn Helena.
»Natürlich, du Dummchen!« Ihr Bruder schüttelte über so viel Unwissenheit den Kopf. »Alle feiern Weihnachten!« Er sah Narraway an. »Sie ist ja erst drei. So etwas weiß sie noch nicht«, erklärte er ihm.
Helena streckte ihm das blau glänzende Band entgegen. »Du kannst es haben, wenn du willst«, bot sie ihm an.
Er holte Luft und wollte es höflich ablehnen, sah aber ihr Lächeln und die Hoffnung in ihren Augen. Er blickte unentschlossen zur Mutter.
»Nehmen Sie es ruhig«, formten ihre Lippen lautlos.
Narraway beugte sich vor, um die Girlande zu berühren. Das glänzende Papier, das ein klein wenig schief aneinander geklebt war, fühlte sich glatt an.
»Bist du sicher? Sie ist sehr schön. Möchtest du sie nicht lieber selber behalten?«
Sie schüttelte den Kopf und hielt ihm das Kunstwerk immer noch hin.
»Dann vielen, vielen Dank.« Er nahm es vorsichtig, falls sie ihre Meinung doch noch ändern sollte. »Ich werde die Girlande bei mir zu Hause bei meinem Sessel aufhängen, damit ich sie immer vor Augen habe.«
Sie ließ die Girlande los, und sie fiel ihm in die Hände.
Die Frau hob das kleine Kind hoch und trug es die Stufen hinauf. Narraway reichte ihr das Einkaufsnetz und wartete, bis sie alle hineingegangen waren. Die beiden älteren Kinder sahen ihm immer noch nach, als er sich umwandte und mit der blauen Papierkette in der Hand den Weg zurückging.
Das Gefängnis, in dem Dhuleep Singh festgehalten worden war, lag an einem großen Innenhof mit Gebäuden an drei Seiten und einem offenen Durchgang, von dem aus die Beobachtungen zum größten Teil gemacht worden waren. Die Soldaten waren mit verschiedenen Reparaturen und Wartungsarbeiten beschäftigt gewesen, die üblichen Rou tineaufgaben, die die meiste Zeit des Tags einnehmen, wenn sich die Soldaten nicht im Kampfeinsatz befanden oder von einem Ort zum anderen marschierten. Es waren stumpfsinnige Arbeiten, aber immer noch besser als das nutzlose Herumstehen. Man konnte sich gut vorstellen,
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