Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
dass man einen solchen Posten verließ und es dann mit der Wahrheit nicht so genau nahm, wenn man seine Abwesenheit rechtfertigen musste.
Narraway begab sich nacheinander an all die Stellen, prüfte, was man von dort aus sehen konnte, die Möglichkeiten des Irrtums und der Lüge. Konnte man so vertieft in seine Arbeit sein, dass man nicht bemerkte, dass jemand an einem vorbeiging? Er glaubte es nicht.
Hatte jemand seinen angegebenen Aufenthaltsort verlassen und dann seine Abwesenheit verschwiegen? Das schien die einzig mögliche Antwort zu sein. Das zu beweisen wäre allerdings nahezu unmöglich. Allein schon der Versuch würde viele gegen ihn aufbringen.
Er begann die Befragung mit Grant. Nachdem Chuttur Singh den Alarm ausgelöst hatte, war er als Erster im Gefängnis angekommen. Er war noch nicht im Dienst, weil er fast die ganze Nacht Wache gestanden hatte. Zu ihm ging Narraway zuerst. Es hatte ein schlechtes Gewissen, den Mann aufzuwecken, der sicher müde war, aber die knappe Zeit ließ ihm keine andere Wahl.
Narraway ging durch das Tor, vorbei an ein paar Ponys, die unter einem herrlichen Mangobaum an einem Pfahl angeleint waren. Er schritt schnell zur Veranda, die Stufen hinauf und klopfte an die Eingangstür. Er klopfte ein zweites Mal, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, machte dann die Tür selbst auf und ging ins Haus.
»Korporal Grant!«, rief er laut und deutlich.
Er erhielt keine Antwort.
Statt erneut zu rufen, schritt er durch das Wohnzimmer.
Auf einem großen, wackligen Tisch in der Raummitte befanden sich eine halb volle Flasche Brandy, vier leere Sodaflaschen und ein Korkenzieher. Benutzte Gläser standen da, wo am Vorabend offensichtlich vier Kartenspieler gesessen waren. Weiterhin lagen da eine Schachtel mit Zigarren, ein paar Zeitschriften, eine reich verzierte Schreibtischgarnitur, ein Bündel Briefe und ein Revolver.
Die anderen Möbelstücke beachtete er nicht und ging an weiteren Stühlen, einem ramponierten japanischen Schränkchen, einer Sammlung geschmiedeter Speere in einem Ständer in der Ecke, an Pferdepeitschen und einem Gewehr vorbei. Er betrachtete einige Bilder an der Wand in der Hoffnung, etwas über Grants Herkunft und Charakter zu erfahren. An der Wand hingen ein Klassenfoto und das Gemälde eines Soldaten mit einer Frau. Sie trug ein Kleid, das vielleicht vor zwanzig oder dreißig Jahren modern gewesen sein mochte, wenn man die Frisur und den Schnitt des Kleids, soweit man es erkennen konnte, mit in Betracht zog. Wahrscheinlich waren das Grants Eltern. Das könnte er in Erfahrung bringen, wenn er Grant von Angesicht zu Angesicht sah.
»Korporal Grant!«, rief er diesmal noch lauter. Er wollte nicht in das Schlafzimmer eindringen. Das gehörte sich nicht. Er selbst hätte es auch nicht besonders geschätzt, wenn ein Vorgesetzter sich ihm gegenüber so verhalten würde. Außerdem wollte er ihn zum Verbündeten, nicht zum Feind machen, zumindest vorerst. »Korporal Grant!«, rief er erneut.
Im hinteren Zimmer regte sich etwas. Dann hörte er Schritte und ein Rascheln. Kurz darauf, anscheinend noch im Halbschlaf, erschien Grant mit zerzausten Haaren in der Tür. Er hatte hastig die Hose angezogen, und seine Uniformjacke war noch nicht zugeknöpft.
»Grant, zur Stelle, Sir.«
»Tut mir leid, dass ich Sie störe«, sagte Narraway und stellte sich vor. »Ich wecke Sie nur ungern auf, aber ich habe nur heute die Möglichkeit, mit allen über den Fall Tallis zu sprechen. Ich bin dazu abkommandiert, ihn zu verteidigen. Da Sie als Erster am Tatort waren, wollte ich auch mit Ihnen beginnen.«
Grant blinzelte. Er war gut aussehend und vielleicht vier oder fünf Jahre älter als Narraway. Seine etwas undeutliche Aussprache verriet, dass er vom Land kam. Narraway hätte den Akzent Cambridgeshire zugeordnet oder einer Gegend noch weiter im Norden. Sein braunes Haar hatte einen rötlichen Schimmer, und seinem Teint sah man mindestens einen Sommer in Indien an.
»Oh«, seufzte Grant. »Ich verstehe. Nun, ich kann Ihnen auch nicht mehr sagen, als ich bereits Hauptmann Busby gesagt habe. Tut mir leid.«
»Ziehen Sie sich erst mal in Ruhe an.« Narraway wollte eine freundliche Atmosphäre schaffen und einen Befehlston vermeiden. »Ich mache uns inzwischen Tee.«
Grant deutete auf das dritte Zimmer. »Da ist die Küche. Irgendwo müssten auch die Dienstboten sein. Wahrscheinlich wollten sie mich nicht stören. Ich hasse es, wenn sie hier herumfuchteln, während …« Er machte
Weitere Kostenlose Bücher