Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
haben den Fall untersucht.« Latimers Kinnpartie war angespannt, und an der Schläfe zuckte ein Muskel. »Dhuleep Singh hatte geheime Informationen, was die Truppenbewegungen angeht, insbesondere aber über die Patrouille, die dem Massaker zum Opfer gefallen ist. Ohne Hilfe hatte der Mann nicht entkommen können.« Seine Stimme wurde leiser, als fiele es ihm zunehmend schwerer, alles in Worte zu fassen. Er räusperte sich angestrengt. »Unsere Nachforschungen haben alle Möglichkeiten ausgeschlossen, außer der, dass Korporal John Tallis, der Sanitäter, ihm geholfen hat.« Er sah Narraway in die Augen. »Übermorgen wird ihm der Prozess gemacht. Sie werden seine Verteidigung übernehmen.«
In Narraways Kopf ging alles durcheinander, und eisige Kälte überkam ihn. Viele Gründe kamen ihm schlagartig in den Sinn, weshalb er auf keinen Fall tun konnte, was Latimer von ihm verlangte. Er war der Aufgabe nicht ansatzweise gewachsen. Wie viel besser wäre es gewesen, einen der Offiziere einzusetzen, die während der Belagerung und bis zu deren Aufhebung bei dem Regiment gewesen waren und die alle Beteiligten kannten. Vor allem sollte es ein Offizier sein, der mit den Militärgesetzen vertraut war, jemand, der so etwas schon mal gemacht hatte und den alle kannten und respektierten.
Andererseits versicherte ihm eine klare, vernünftige innere Stimme, dass er, gerade weil er nicht zu dieser Personengruppe gehörte, von Latimer ausgewählt worden war.
»Ja, Sir«, antwortete er schwach.
»Major Strafford wird jeden Augenblick hier sein. Er wird Ihnen die Anweisungen und die Informationen geben, die Sie benötigen. Da ich den Vorsitz bei Gericht übernehme, halte ich es nicht für angebracht, dies selbst zu tun.«
»Ja, Sir.« Narraway hatte das Gefühl, als ob mit dieser Entscheidung das Ende seiner Karriere besiegelt wurde. Major Straffords Abneigung ihm gegenüber stammte noch aus der Zeit, bevor er dem Regiment beigetreten war. Er war sich fast sicher, dass diese Abneigung von der kurzen, unglückseligen Bekanntschaft mit Straffords jüngerem Bruder herrührte. Sie waren im letzten Schuljahr gemeinsam in Eton zur Schule gegangen, und nichts an ihrer Verbindung war erfreulich gewesen.
Narraway war ein wissenschaftlich interessierter, dem Sport allerdings abgeneigter Schüler gewesen. Der junge Strafford hingegen war ein guter Sportler, aber in den anderen Fächern Narraway bei Weitem unterlegen. Gegenseitige Verachtung bestimmte ihr ansonsten problemloses Nebeneinander. Das jedoch wurde an einem Sommerabend bei einem großartigen Kricketmatch erschüttert. Es war ein spannendes Spiel, Straffords Team war am Schlag, bis Narraway in der einzigen Sportart, die er gerne ausübte, eine selten brillante Eingebung hatte. Der dunkle, schlanke Schüler warf wortlos die letzten drei Spieler aus Straffords Team aus dem Spiel, einschließlich des großen Sportlers selbst. Die Tatsache, dass Narraway das anscheinend mit Leichtigkeit schaffte, war schlimm genug, aber dass er nicht einmal offen Freude darüber zeigte, war unverzeihlich.
Der jüngere Strafford hatte nie die Chance gehabt, auf dem Spielfeld Revanche zu fordern, dem einzigen Ort, an dem seine Ehre hätte wiederhergestellt werden können. Andere Streitigkeiten oder Siege zählten nicht. Kein Streich, keine Spöttelei konnten es ausgleichen, als schlech ter Verlierer dazustehen.
Aber all das war schon zwei Jahre her, in seiner Jugendzeit, und Tausende Meilen weit entfernt.
»Hauptmann Busby wird die Anklage übernehmen«, fuhr Latimer fort. »Die Beweislage scheint eindeutig zu sein. Sie können Korporal Tallis jederzeit befragen sowie alle anderen, die zur Verteidigung beitragen könnten. Wenn Sie rechtliche Fragen haben, wenden Sie sich an Major Strafford.«
»Ja, Sir.« Narraway stand immer noch stramm, seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, sich ganz unter Kontrolle zu halten.
Es klopfte.
»Herein«, befahl Latimer.
Die Tür schwang auf, und Major Strafford kam herein. Er war ein großer, gut aussehender Mann Anfang dreißig, aber er erinnerte doch an Narraways Schulkameraden, der so viel jünger war – das spiegelte sich in der Schulterhaltung, dem dichten, hellen Haar und in der Kinnpartie.
Strafford blickte Latimer an.
»Sir.« Er salutierte. Nachdem ihm die Erlaubnis erteilt worden war, rührte er sich wieder. Er sah Narraway ausdruckslos an. »Sie sollten sich noch heute mit der Sache vertraut machen und morgen früh gleich mit den Befragungen
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