Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
vertraut sein, muss die Nachschubwege sichern und muss versuchen, möglichst alle geheimen Informationen des Feinds herauszubekommen. Aber vor allem muss er das Vertrauen und die Anerkennung seiner Soldaten gewinnen. Er muss ehrenhaft und entschieden handeln, er muss wissen, wofür er kämpft, und daran glauben, dass es sich zu kämpfen lohnt.
Latimer musste sich umgehend mit John Tallis befassen, und zwar so, dass man später mit reinem Gewissen auf den Fall zurückblicken konnte. Das war unbedingt notwendig.
Victor Narraway war nun mit der schweren Last beauftragt, einen Mann zu verteidigen, der nicht zu verteidigen war. Er saß strategisch und emotional in der Falle, so als würde er am Ort seiner Pflichten belagert, ohne fliehen zu können, und ohne die Hoffnung, daraus befreit oder gerettet zu werden.
Es war schon spät. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Die Situation würde nicht besser werden. Er wandte sich von der hellen Oberfläche des Flusses ab und ging wieder ins Dunkel in Richtung Kaserne und zu dem behelfsmäßigen Gefängnis, in dem John Tallis bis zu seinem Prozess und dem unvermeidlichen Todesurteil untergebracht war. Narraway musste noch heute Abend beginnen.
Die Wachposten standen stramm vor der Gefängnistür. In der Dunkelheit konnte man ihre Gesichter kaum erkennen. Sie wirkten ausdruckslos. Auch Narraway betrachteten sie ohne Interesse. Einer von ihnen hielt eine Öllampe hoch. Sie waren beide noch jung, aber wohl schon lange in Indien, denn ihre helle Haut war von der Sonne braun gebrannt. An seiner Uniform erkannten sie Narraways Rangabzeichen.
»Ja, Sir?«, sagte der größere der beiden völlig teilnahmslos.
»Leutnant Narraway. Ich möchte den Gefangenen sehen.« Er hatte Ablehnung erwartet, erzwungene Höflichkeit. Nichts dergleichen. Ergriff der Soldat tatsächlich keine Partei, oder war er durch die Belagerung völlig gefühllos geworden?
»Ja, Sir«, antwortete der Wachposten gehorsam. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich muss Ihre Schusswaffe an mich nehmen, Sir. Keine Waffen erlaubt, während Sie bei dem Gefangenen sind.«
Mit einem Frösteln wurde Narraway wieder gewahr, dass der entflohene Gefangene den Wachposten mit dessen eigener Waffe ermordet hatte. Widerspruchslos übergab er seinen Revolver.
Kurz darauf, in der Zelle, stand er John Tallis von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Tallis war von großer, leicht gebeugter Statur. Er war von Natur aus schlank, aber die dürftigen Essensrationen, der lange, heiße Sommer unter der Belagerung und jetzt die Gefangenschaft hatten ihn ausgemergelt. Er trug noch seine Uniform, und die Hose schlabberte am Körper. Die Uniformjacke hing schief von seinen Schultern und locker über seiner Brust. Sein dichtes schwarzes Haar fiel glatt herunter, und seine blauen, weit aufgerissenen Augen bildeten einen Kontrast zu der von der Sonne gegerbten Haut. Sein Alter war schwer einzuschätzen, aber Narraway wusste, dass er dreißig war.
Narraway stellte sich vor. »Ich werde Sie vor Gericht verteidigen«, erklärte er. »Ich muss mit Ihnen sprechen, weil ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll. Ich weiß Bescheid über Ihre Zeit im Regiment, weil es offizielle Unterlagen gibt. Es sind sich alle einig, dass Sie einer der besten Sanitäter sind, die sie jemals kennengelernt haben.«
Er bemerkte, wie Tallis sein Kinn leicht hob und ein verzerrtes, spöttisches Lächeln aufsetzte. Seine Zähne waren weiß und makellos.
»Das ist sicher nützlich, wenn ich einmal wegen Unfähig keit angeklagt werde«, sagte er mit leicht gebrochener Stimme. »Jetzt hilft es mir allerdings gar nichts!«
Narraway versuchte krampfhaft, eine Frage zu finden, die Tallis Entlastung brächte. Was um alles in der Welt stellte sich Latimer vor, das er tun könnte? Eine Verteidigung war unmöglich! Er war da völlig überflüssig. Kein Wunder, dass Latimer nicht jemanden damit betraut hatte, der lange und treu ergeben an seiner Seite gedient hatte.
»Erzählen Sie mir einfach, was geschehen ist«, sagte Narraway laut. »Ganz genau. Geben Sie mir alle Details, an die Sie sich erinnern. Holen Sie so weit aus wie nötig, damit alles irgendwie einen Sinn ergibt.«
Tallis blickte ungläubig drein. »Einen Sinn? Seit wann sind Sie hier? Seit gestern? Es gibt keinen Sinn. Alles ist eine kolossale Ansammlung von Dummheiten, Kugeln, die mit Schweineschmalz und Rinderfett eingelassen wurden. Wahrscheinlich war es ohnehin verdammter Hammel! Keiner hört dem anderen zu.
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