Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
weiter. Hieß das, Tallis habe sich damit abgefunden, schuldig gesprochen und gehängt zu werden?
Narraway konnte nicht so schnell aufgeben. Latimer wollte mehr als eine Kapitulation, er brauchte eine Antwort, die Hoffnung machte, einen Funken Vernunft in dem allgemeinen Zustand von Schwäche und Angst. Sein Ton wurde schärfer.
»Jemand hat den Mann umgebracht, und Sie sind nun einmal der Einzige, der kein Alibi hat. Alle anderen waren mit etwas beschäftigt und wurden dabei gesehen. Hören Sie – wenn Sie einen Grund hatten, ihn zu töten, wenn Sie etwas über ihn wissen, so sagen Sie mir das bitte jetzt.« Er wollte schon hinzufügen, dass Tallis es aus ureigenem Interesse erklären müsste, hielt dann aber inne. Was immer Tallis auch sagte, es würde nichts an seinem Tod ändern. Man würde ihn hängen, das war beiden bewusst. Es war sinnlos und armselig, sich etwas vorzumachen. Das würde den hauchdünnen Faden durchschneiden, der sie verband und der seine einzige Chance war.
Er begann von Neuem. »Das Regiment muss eine Erklärung bekommen. Überall herrschen Chaos und Tod. Da müssen wir wenigstens an uns selber glauben können.«
Tallis schloss seine strahlend blauen Augen. »Mein Gott, wie jung Sie noch sind! Neunzehn? Letztes Jahr um diese Zeit haben Sie noch an einem sauberen Holzpult gesessen und haben Ihr Examen geschrieben, haben darauf gewartet, dass die Glocke läutet und die Zeit um ist.«
»Zwanzig«, fauchte Narraway. Er spürte, wie Röte in sein Gesicht schoss. »Und ich …« Er unterbrach sich voller Scham darüber, wie absurd es war, jetzt an sich selbst zu denken. Tallis stand vor einem Prozess, der sein Leben beenden würde, und man hatte ihm nichts Besseres angeboten, als sich vom jüngsten Leutnant verteidigen zu lassen.
Narraway sprach jetzt leiser und versuchte, seine Stimme ganz ruhig klingen zu lassen. »Bitte, um des Regiments willen und wegen der Kameraden, die Ihnen vertraut haben, helfen Sie, damit sie einen Sinn in Ihrem Handeln erkennen. Geben Sie ihnen eine Erklärung, egal welche. Warum wollten Sie Dhuleep retten? Was glaubten Sie, würde er tun? Wenn Sie die Patrouille nicht verraten wollten und verhindern wollten, dass Chuttur getötet wird, was um alles in der Welt ging dann schief? Wenn jemand lügt, wer ist es? Und warum tut er es?«
Tallis starrte ihn an, wollte etwas sagen, unterließ es aber doch.
»Schützen Sie jemanden?«, fragte Narraway scharf. »Müssen Sie eine Ehrenschuld begleichen?«
Tallis war völlig verblüfft. Kein Leugnen hätte seine innerste Überzeugung ausdrücken können. »Ehrenschuld?«, fragte er ungläubig. Dann musste er lachen, verhalten, aber mit einem hysterischen Unterton, der einem durch und durch ging.
Narraway kam sich lächerlich und schmerzlich hilflos vor. Er hatte mit Wut gerechnet, mit Verzweiflung, Selbstmitleid, aber nicht damit.
Dann hörte Tallis genauso plötzlich zu lachen auf, wie er begonnen hatte. »Ich habe Chuttur Singh nicht getötet, auch nicht wegen einer Ehrenschuld«, sagte er leise, fast sanft, als sei der Gedanke völlig abwegig. »Ich bin Sanitäter, der rein zufällig eine Uniform trägt. Ich rette Leben – jedermanns Leben. Ich würde auch einen kranken Hund behandeln. Es ist meine ehrenvolle Aufgabe zu heilen.«
Narraway fiel nichts mehr ein. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte.
»Um Gottes willen, Mann, denken Sie doch nach!«, rief er verzweifelt aus. »Wer verstand sich gut mit Dhuleep? Wer könnte ihm etwas geschuldet oder auf seiner Seite gestanden haben? Ist es möglich, dass es eine offene Schuld gegeben hat, oder lag er vielleicht im Streit mit einem Soldaten der Patrouille, die vernichtet wurde? Wenn Sie es nicht getan haben, wer war es dann?«
Tallis riss seine strahlend blauen Augen auf. »Werde ich deshalb verdächtigt? Weil ich vielleicht jemandem etwas schuldig war oder jemanden in der Patrouille hasste? Ich bin Sanitäter. Ich weiß nicht einmal, wer bei dieser verdammten Patrouille alles dabei war! Ich gehöre zu den wenigen in der Garnison, die nie Zeit haben, Geld zu verspielen oder irgendwelche Schulden zu machen. Die Hälfte unserer Arzt- und Pfleger-Belegschaft ist während der Belagerung umgekommen, und es sieht ganz und gar nicht danach aus, als könnten wir auch nur einen von ihnen ersetzen.«
»Denken Sie nach! Haben Sie Gerüchte gehört? Geschichten?«, bohrte Narraway nach. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Mir bleibt überhaupt keine Zeit mehr«,
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