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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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dass kein Makel an unserem Verhalten haften bleibt, der uns in der Zukunft behindern würde. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
    Narraway holte tief Luft und atmete schwer wieder aus. »Ja, Sir«, sagte er, als hätte er schon eine Idee, wie er das anstellen konnte. In Wahrheit hatte er keinerlei Vorstellung. Er salutierte und verließ den Raum.
    Von der Kommandozentrale schritt er ziellos über den trockenen Boden. Jetzt war es stockfinster, am Himmel glänzten die Sterne und der Dreiviertelmond. Das Licht reichte, um die Umrisse der kaputten Mauern und der schwarzen Tamarindenbäume zu erkennen, die bewegungslos in der ruhigen Nacht standen. Auf dem trockenen Boden waren seine Schritte nicht zu hören.
    Es begegneten ihm ein paar Leute, auch auf der Straße, außerhalb der Abwehrschanze. Die Wachposten beachteten ihn nicht. In seiner Uniform konnte er ungefragt passieren.
    Eine halbe Meile entfernt murmelte der gewaltige Fluss Ganges, glitt gleichmäßig dahin, in seiner nahezu glatten Oberfläche spiegelte sich das Mondlicht. Nur wo sich Strudel bildeten, bewegte sich das Wasser.
    Der Gefangene, der entkommen war, und der Wachposten, den er so grausam umgebracht hatte, waren beide Sikhs. Das war an sich nichts Besonderes. Während des Aufstands gab es auf beiden Seiten Sikhs. Indien war ein riesiges Land, und die verschiedenen Regionen waren geprägt von unterschiedlichen Ethnien und Religionen, Sprachen und kulturellen Eigenheiten. Kleinkrieg und Scharmützel gab es überall.
    John Tallis war Engländer, aber einer seiner Großeltern war Inder gewesen – Narraway hatte keine Ahnung, woher sie stammten, ob sie nun Hindu, Sikh, Jain, Muslim oder etwas anderes waren. Er fürchtete sich vor dem Treffen mit Tallis. Doch er musste zu ihm, sobald er sich einigermaßen im Klaren darüber war, wie er an die Sache herangehen konnte.
    Ein ungeheures Verbrechen war begangen worden, und es gab keine Rechtfertigung dafür. Der Wachposten, Chuttur Singh, war auf grausame Art getötet worden. Er hatte nicht einmal das Glück gehabt, dass er schnell tot war. Das Massaker, dem die Patrouille dann zum Opfer fiel, war zwar auch blutig gewesen, aber in gewisser Hinsicht Teil des Kriegs, so grausam das auch war. Es hätte allerdings gar nicht passieren können, hätte der Feind nicht genau gewusst, wo und wann die Patrouille aufzuspüren war.
    Was hatte John Tallis so verändert, dass er von einem erstklassigen, loyalen und engagierten Militär-Sanitäter mit herausragenden Eigenschaften zu einem Verräter seiner Kameraden wurde?
    Narraway ging zwar langsam, befand sich aber schon auf der Straße, die in die zerstörte, schmutzige Stadt führte. In der Ferne sah er die Silhouette zweier Kirchtürme. In seiner Nähe befanden sich ein paar geschlossene Läden. Es war kaum jemand unterwegs. Nur ab und an sah er einen Lichtschimmer, der durch die halb verschlossenen Fensterläden drang. Er hörte Gelächter, eine Frau sang, und es roch nach Essen. Nach Einbruch der Dunkelheit war es merklich kühler geworden. Wenn er jetzt länger stehen blieb, würde er die Kälte spüren.
    Narraway aber setzte seinen Weg Richtung Fluss fort und roch die Feuchtigkeit. Der Boden unter seinen Füßen wurde jetzt weicher.
    Was genau erwartete Latimer eigentlich von ihm? Er hatte Narraway zu verstehen gegeben, dass er von ihm eine Erklärung für Tallis’ Tat erwartete. Die Menschen sollten sein Handeln verstehen können. Niemand kann das Chaos eindämmen. Vielleicht ist die Angst vor der Sinnlosigkeit die schlimmste Angst, eine, gegen die wir uns nicht wehren können.
    Versuchte Latimer, der oberste Befehlshaber, der Mann, auf den alle blickten, etwa den Glauben an eine Ordnung wiederherzustellen und damit den Kampf zu rechtfer tigen?
    Er trat zwischen die letzten Bäume hindurch ans Ufer, starrte über die Wassermassen zum Horizont nach Nordosten, wo, wie er wusste, Lakhnau lag. Genau einen Monat vor Weihnachten war General Havelock vor der Stadt umgekommen, erschöpft, geschlagen und besiegt. Hatte er die verzehrende Finsternis von Verlust und Panik miterlebt, eine Hoffnungslosigkeit, die ihn überwältigt hatte?
    Wie viel Moral und Pflichterfüllung muss einem Anführer eigen sein? Diese Lektion war ihm immer wieder beigebracht worden, sowohl in der Schule als auch in seiner militärischen Ausbildung. Ein Offizier muss sich mit Tak tik auskennen, muss sowohl seine eigenen Soldaten als auch seinen Feind verstehen, muss mit dem Gelände und den Waffen

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