Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
verbesserte ihn Tallis. »Das Regiment will die Sache möglichst schnell abschließen, so schnell wie es der Anstand erlaubt. Ich kann denen das nicht vorwerfen. Wahrscheinlich würde ich an ihrer Stelle genauso handeln.« Er presste die Lippen ganz fest zusammen und sagte dann nur: »Frohe Weihnachten, Leutnant.«
Narraway schlief schlecht. Seine wirren Träume waren voller Hoffnungslosigkeit. Er wachte auf und kämpfte mit dem Laken, als ob dieses ihn binden und von einer Flucht abhalten wollten. Er rang nach Atem, ohne dass etwas von außen ihm das Atmen erschwert hätte.
Immer wieder stand ihm Tallis’ Blick vor Augen. War er unschuldig? War alles womöglich ein schrecklicher Irrtum? Oder war es möglich, dass die zuständigen Autoritäten unbedingt einen Schuldigen finden wollten, um glauben zu machen, dass Gerechtigkeit geübt werde, die Gerechtigkeit selbst aber dabei tatsächlich auf der Strecke blieb?
Könnte es eine andere Erklärung geben? Es schien so, als ob sonst niemand die Gelegenheit gehabt hatte, Chuttur Singh zu töten, und es daher Tallis gewesen sein musste. Aber was konnte sein Motiv sein? Was übersah Narraway, das die Sache erklärt hätte?
Er war so müde, es hämmerte in seinem Kopf, und seine Augen brannten.
Er stand früh auf, wusch und rasierte sich, zog sich an, bevor er zur Messe ging, und frühstückte schnell. Er mochte die Früchte des indischen Sommers: Mangos, Bananen und Guaven. Aber jetzt gab es keine mehr. Er erwiderte den Gruß der anderen Offiziere, saß aber alleine, um Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Er musste nachdenken.
Latimer hatte ihn für heute damit beauftragt, eine Verteidigungsstrategie für Tallis aufzubauen. Ein Gnadengesuch wäre zwecklos. Die einzige Konsequenz aus einem Schuldurteil war die Hinrichtung. Ständig wurden Soldaten getötet. Kanpur badete im Blut. Der Tod war billig. Einer mehr oder weniger fiele kaum ins Gewicht.
Nach dem Frühstück ging er nach draußen und weiter auf der staubigen Straße entlang. Die flachen Bungalows der Offiziere waren nur noch heruntergekommene Gebäude: drei oder vier Räume auf leeren Flächen, die in friedlichen Zeiten Gärten gewesen wären. Er hörte die lautlosen Schritte hinter sich nicht und bemerkte Hauptmann Busby erst, als dieser ganz nah neben ihm war und ihn ansprach.
»Guten Morgen, Leutnant«, grüßte ihn Busby forsch. Er verbarg nicht einmal, dass er ihm absichtlich begegnen wollte. »Gute Idee, sich etwas von der Kaserne zu entfernen. Es freut mich, dass Sie darauf gekommen sind.«
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte Narraway kurz angebunden. Was wollte Busby von ihm? Er war noch nicht bereit, über Strategien zu sprechen und schon gar nicht, irgendwelche Anweisungen anzunehmen.
Sie kamen an eine Kreuzung. Busby kam näher an ihn heran und zwang ihn so, stillschweigend seine Führung zu akzeptieren und auf die breitere Straße in Richtung Stadt einzubiegen.
Das erste Gebäude, an dem sie vorbeigingen, war die Bücherei. Sie war geschlossen und sah staubig und verlassen aus. Zwei Frauen mit Büchern in der Hand unterhielten sich auf den Stufen davor, blickten dann die Straße mit den Teestuben hoch, in Richtung Basar.
Ein paar Männer kamen von der Frühstückskantine auf der anderen Straßenseite, nickten ihnen, mit der Hand am Hut grüßend, höflich zu. Sie hatten ernste Gesichter und vermieden es, Busby und Narraway größere Aufmerksamkeit zu schenken.
Zu dieser Tageszeit waren die Billardsäle verwaist wie auch das Gebäude der Freimaurer mit dem schönen Portal. Narraway hatte eigentlich zum Fluss gehen wollen. Er wollte dem Lärm entgehen und dem ständigen Betteln der vielen Menschen, dieses oder jenes zu kaufen, aber Busby wollte mit ihm sprechen, und dem konnte er sich nicht entziehen.
»Sieht nicht mehr so aus wie früher«, stellte Busby bedauernd fest, als sie an den Türen des Nachrichten zentrums vorbeigingen. »Natürlich tut jeder sein Bestes, aber die Erinnerung an die Belagerung und die Angst, dass sie sich wiederholen könnte, ist noch überall präsent. Egal, wohin man schaut, man wird immer wieder daran erinnert, dass jemand nicht mehr unter uns ist. Gott sei Dank ist bald Weihnachten. Das erinnert uns daran, wer wir sind und was wir glauben.« Er sprach ganz locker, aber man hörte seiner Stimme die Anspannung dennoch an.
Er war etwas größer als Narraway und etwa sieben oder acht Jahre älter. Sein heller Teint war von der indischen Sonne gerötet. Er hinkte leicht,
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