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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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ohne das Geschrei der Gläubigen erschien er ihr abweisend und fremdartig, obwohl sie schon hundertmal durch diese Passagen gegangen war. Dies war die Zeit, wo der Tempel allein sein wollte.
    In einem der großen zehneckigen Gewölbe angekommen, schlich sie auf Zehenspitzen in die nächstbeste Kapelle. Da wartete der leere Holovisionsschirm, ein Reservoir wilden Hasses. Sein Gesicht fühlte sich tot an.
    Eine rasche Bewegung, und sie hatte ihre Gehirnschale abgenommen, legte sie hinter das dicke rote Kissen und setzte sich.
    Den Blick auf den Holovisionsschirm gebannt, hob sie die Hand, tastete nach der Elektrode, zog sie herab und drückte sie tief in das gefühllose Großhirn. Grüne Schleier tanzten über den Bildschirm. Sekundenlang schloß Tez die Augen, riß sie dann auf, mit knirschenden Zähnen. Ihre Gedanken gewannen an Kraft, an Intensität.
    Die Schleier im Holovisionsschirm veränderten sich. Das Grün verwandelte sich in Gelb, das Gelb in Orange. Das amorphe Orange nahm Gestalt an. Es war ein Feuer – ein brennender Scheiterhaufen. Die Flammen verzehrten das Holz, sprangen in den Hintergrund. Huaca erschien auf der Bühne. Er hatte keine Beine. Tez konzentrierte sich, und er bekam Beine.
    »Habe ich wirklich so schwer gesündigt, daß es keine Worte dafür gibt?« fragte Huaca auf dem Holovisionsschirm. »Großer Gott der Gehirne, Tez, ich habe ihn auch geliebt – vielleicht genausosehr wie du.«
    Ein verirrtes orangegelbes Licht schwebte vor Huaca. Tez setzte ihre Gedankenkraft in verstärktem Maße ein und erzeugte aus dem Licht ihre eigene Gestalt. Die projizierte Tez lief zu ihrem Bruder, der die Rede vom vergangenen Morgen repetierte. Als er das Obsidianskalpell in ihrer Hand erblickte, ließ er sein Manuskript fallen. »Aber – ich habe etwas Neues entdeckt – eine neue Methode, Lipoca-Mist zu malen. Man muß das Pigment in die Nase gießen und niesen. Ein Meisterwerk…« Nervös starrte er auf das Messer.
    Tez stürzte sich auf ihn, schwang das Skalpell, zerfetzte seine Robe, riß sie ihm vom Leib. Sie zielte nach unten, und die Klinge drang in Huacas unsportlichen Bauch ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Eine grausige Masse aus Eingeweiden strömte heraus, zerfloß und verschwand.
    Verschwand? Ihre Konzentration ließ nach. Dieser Gottesdienst kam ihr ganz anders vor als die anderen. Warum? Sie wußte es nicht. Und dann erkannte sie das Offensichtliche.
    Sie amüsierte sich.
    Wie alle anderen Gläubigen benutzte Tez die Bilder, um eine lebhafte Flut von Träumen hervorzurufen und auch den letzten Tropfen gewalttätiger Lüste aus ihren eingekerkerten Frustrationen zu pressen. Aber während andere Quetzalianer mit humorloser, hypnotisierter Aufmerksamkeit auf den Bildschirm starrten, lachte Tez, bis ihre Augen in Tränen schwammen.
    »Hol sie dir wieder, Doktor!«
    Die Eingeweide kehrten zurück. Als die erfundene Tez sie zerquetschte, verwandelten sie sich, und sie zerrte einen kunstvoll geflochtenen Strick aus Huacas Bauch, Meter um Meter. Er versuchte zu fliehen, aber sie zog noch schneller, griff tief in seine Gedärme hinein, dann lief sie um ihren Gefangenen herum, bis er ein zusammengeschnürtes Bündel war.
    Die wirkliche Tez lachte noch immer. Ihre Phantasie geriet ins Wanken, begann zu entschwinden. Verdammt, schimpfte sie mit sich selbst, paß doch auf!
    Die Szene gewann ihre lustvolle Strahlkraft zurück. Nun hob sie ihren gefesselten Bruder hoch in die Luft, trug ihn zum Rand des Steinbruchs, warf ihn hinab. Durch die Magie der Gedanken wurde ein sechsbeiniges Ei aus Huacas Projektion. Mit einem schauerlichen Schrei segelte das Ei zweihundert Meter hinab in die Tiefe, indas unvermeidliche Verderben.
    Tez schaltete auf einen subjektiven Blickwinkel um, packte die Ecken ihres Kissens, als der Boden emporraste. Ihr Magen stürzte im freien Fall nach unten, und sie lachte gellend. Und dann, im Augenblick des Aufpralls, wünschte sie sich hoch nach oben, schwebte hinauf und beobachtete entzückt, wie ihr eiförmiger Bruder auf den Felsen aufschlug und sich zu einem schleimigen Brei aus Eiweiß und Dotter auflöste, durchsetzt mit Schalensplittern.
    Die Show war zu Ende.
     
    Allmählich wurde sie wieder ernst. Ihr Gelächter sank zu einem leisen Kichern herab, dann zu einem Lächeln, sie schaute blinzelnd auf den Bildschirm. Kleine Bruchstellen bezeugten, daß das Gerät im Lauf der Jahre nur selten benutzt worden war. Tez drehte sich um, drückte den Hebel ganz nach oben.

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