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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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feierlichen, einsamen Prozession trug die Priesterin die Fackel zum Scheiterhaufen, der kegelförmig aus dem Nebel aufragte wie der Geist einer Pyramide. Francis hatte angenommen, die Scheite würden sofort entzündet werden, bevor die Luftfeuchtigkeit sie durchtränken konnte. Statt dessen wandte sich die Priesterin den Trauergästen zu und leierte eine kurze, aber wohldurchdachte Inhaltsangabe von Teots Leben herunter.
    »Als ein Volk von Wissenschaftlern und Denkern«, schloß sie, »können wir nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, daß sich Teot Yons Persönlichkeit jetzt jenseits des Himmelstors oder in Satans Suppentopf befindet oder ob sie in den Embryo eines Bullen eingehen wird. Einige von uns glauben an die Hypothese eines Lebens nach dem Tode, andere an weniger erfreuliche Aussichten. Wir alle wissen, daß Teot Yons Existenz als empirisches Ereignis nun beendet ist, und es ist an der Zeit, daß seine Moleküle zu Luft und Asche werden und danach – wohin werden die schwebenden Partikel treiben, welche neuen Dinge werden sie zu formen helfen? Wir wollen mit der Transformation beginnen!«
    Die Priesterin stach mehrmals mit ihrer Fackel in den Scheiterhaufen. Francis fühlte jene Genugtuung, die ihn immer erfüllte, wenn er zusah, wie ein Feuer die Herrschaft übernahm. Er griff nach Tez’ Hand. Wie betäubt starrte sie in die Flammen und murmelte immer wieder: »Man sollte sein Gehirn fressen…«
    Plötzlich verdichtete sich der Nebel, versperrte die Sicht auf das Feuer. Zischende Geräusche drangen herüber, als die Scheite trockneten. Herausfordernd schossen blutrote Flammen empor, sanken zurück, starben.
    »Man sollte sein Gehirn fressen.«
     
    Als nichts mehr von dem Scheiterhaufen übriggeblieben war als graue, schwelende Klumpen, als die Sonne beinahe hinter den runden Gebirgsausläufern am östlichen Horizont verschwunden war, als die Trauergäste gegangen waren bis auf ein halbes Dutzend, das nichts Besseres zu tun hatte, als umherzuschlendern und von Dingen zu reden, die nichts mit der Bestattung zu tun hatten, tauchte Huaca endlich auf. Er marschierte geradewegs auf seine Schwester zu. Die anderen hörten auf umherzuwandern, sperrten Mund und Augen auf. Francis zog sich in den Hintergrund zurück.
    »Verzeih mir nicht«, begann der professionelle Debattenredner, »aber bedenk, daß ich auf Huaca Yon wahrscheinlich nicht weniger wütend bin als du.« Er hatte beabsichtigt, seiner Stimme einen zerknirschten Klang zu verleihen, aber die Erklärung kam ihm zu glatt über die Lippen.
    Tez schob ihre feuchten Hände in die Falten ihrer Robe. Sie sagte nichts, sah ihn nur an, mit wilden Augen.
    »Habe ich wirklich so schwer gesündigt, daß es keine Worte dafür gibt?« Huaca blickte auf die Asche. Der Wind begann sie bereits in den Steinbruch zu wehen. »Großer Gott der Gehirne, Tez, ich habe ihn auch geliebt – vielleicht genausosehr wie du. Wenn ich überzeugt gewesen wäre, daß ihm diese Bestattung irgend etwas nützen könnte, hätte ich alles liegen- und stehenlassen und wäre sofort gekommen. Aber ich hatte gerade eine neue Kunsttheorie entwickelt – und ich war es der Epistemologie schuldig, im Ring zu bleiben. Und jetzt wollen wir uns bitte wieder vertragen.«
    Tez erschauerte, halb vor Kälte, halb vor Zorn. »Du – hast – recht, Bruder. Diesmal – gibt – es – wirklich – keine – Worte – für – deine – Rücksichtslosigkeit, und so – muß – meine Antwort – über – alle Worte – hinausgehen…« Sie zog eine Waffe aus ihrer Robe – fünf Finger und eine Handfläche –, hob sie hoch, schlug sie mit aller Kraft auf Huacas Wange. Sein Kopf flog zur Seite.
    Ringsum wurden hundert Augen groß und rund.
    Keuchend trat Tez zwei Schritte zurück, inspizierte ihre Hand, als sei sie ein künstlich angefertigter Klumpen aus fremdem Fleisch, dann schrie sie: »Gott des Friedens!« Huacas Kopf saß wieder gerade auf dem Hals, und sein Gesicht zeigte keine Merkmale ihrer Rache, abgesehen von einem gestaltlosen roten Fleck. »Tut mir leid, Huaca.«
    Sein Zorn verflog, bevor er ihn hinausschreien konnte, und das gleiche geschah mit seiner Angst. Nur Mitleid und Verblüffung blieben zurück. »Fühlst du dich nicht wohl, Tez? Glaubst du, daß du in der Kirche bist?«
    »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
    Ich muß es ihr sagen, beschloß Francis. Sie ist so aufgeregt. Vielleicht wird sie es gar nicht richtig begreifen. Endlich brachte er genug Mut auf, um zu ihr zu

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