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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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geändert.«
    Vaxcala runzelte die Stirn. »Warum?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht liegt es an Francis’ Einfluß? Jedenfalls stehe ich – das klingt jetzt etwas seltsam – den Aggressionen nicht mehr so feindselig gegenüber.«
    Die Hohepriesterin lachte freudlos.
    »Gestern schrie ich einen Jungen an, weil er uns ein Kanu mit einem Leck vermietet hat«, fuhr Tez fort.
    »Das kann man kaum als Ketzerei bezeichnen.«
    »Und heute nachmittag, nach der Bestattung, ist etwas Schreckliches passiert. Mein Bruder kam zu spät, und das war ihm auch noch egal. Ich kochte vor Wut – wollte ihn töten…«
    »Das ist immer noch normal. Es entspricht zwar nicht dem Durchschnitt, ist aber normal.«
    »Ja, doch diesmal wartete ich nicht auf Zolmec. Ich unterdrückte meine Gefühle nicht.« Tez schilderte, wie sie ihren Bruder geohrfeigt hatte. Nie zuvor hatten Vaxcalas Ohren ein solches Geständnis gehört. Sie schluckte eine Luftkugel.
    »Sie haben geschlagen?«
    »Ja, ganz fest. Auf die Wange.«
    Die Finger der Hohenpriesterin schlängelten sich nach vorn und krallten sich um die Sofakante. Ihre Stimme klang spröde. »Ich nehme an – Sie waren überreizt. Haben Sie einen Gottesdienst versäumt? Vielleicht sollten Sie das nächstemal ganz besonders heftig freveln – eventuell ein Mord mit einer Axt…«
    »Es wird kein nächstes Mal geben. In dieser Woche landet die Darwin.«
    Vaxcala kannte keine echte Besorgnis. »Dr. Yon, wie ist es denn, wenn man jemanden ohrfeigt?«
    »Das ist ja das Verwirrende – ich kam mir kein bißchen sündhaft vor. Es ist nicht viel anders, als wenn man jemanden während des Gottesdienstes schlägt.«
    »Und nun sind Sie entschlossen, auf Francis’ Vorschlag einzugehen?«
    Es dauerte lange, bis Tez antwortete. »Ja – aber ich möchte Ihren Segen haben, Vaxcala. Sie haben auch die Injektionen sanktioniert, die Burnes Armee bekommen hat.«
    »Weil ich unter Druck stand.«
    »Ich versuche auch, Sie unter Druck zu setzen.«
    Vaxcala erhob sich, richtete einen toten Blick auf Tez. Das Licht ihrer Augen schien nach innen, suchte nach einer Antwort. »Dies sind schwere, beunruhigende Zeiten, Dr. Yon. Die Antistasisten bedrängen uns mit neuen Ideen. Wer kann sagen, ob diese Ideen falsch sind? Und jetzt dieser Krieg… Veränderungen erschrecken mich.« Sie wandte sich ab, begann wieder ihre Kerzen zu quälen, »Tez, Sie schwanken zwischen zwei Kulturen. Aus Gründen, die mir immer noch schleierhaft sind, haben Sie sich bereits in einer Art und Weise benommen, die sich mit unseren quetzalianischen Über-Zeugungen nicht vereinbaren läßt. Ob es Ihnen bewußt ist oder nicht – Sie haben bereits begonnen, sich einem neuen Lebensstil zuzuwenden. Ich rate Ihnen, diesen Prozeß zu vollenden und – mit meinem Segen – ein ganzer Nerdenmensch zu werden.« Sie wirbelte herum, mit todernstem Gesicht. »Aber erwarten Sie nicht, daß Sie in Quetzalia jemals wieder willkommen sein werden.«
    Trotz dieser harten Worte fühlte sich Tez getröstet. »Francis wird so glücklich sein. Ich werde sofort zur Mauer gehen.« Sie zogein grünes Bündel aus der Tasche, wickelte eine funkelnde Spritze aus.
    »Weiß Francis, daß Sie das Ding haben?«
    »Nein.«
    »Offenbar lassen Ihre Skrupel auch ohne Noctus’ Hilfe nach.«
    »Ich habe es nicht gestohlen. Ich werde es zurückgeben.«
    »Sie haben es gestohlen«, entgegnete Vaxcala.
    »Nun, dann habe ich es zu einem guten Zweck gestohlen – ich will ihn überraschen. Die Injektion soll mein Hochzeitsgeschenk sein.«
    Vaxcala sank auf das Sofa. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Nerdenmädchen. Ich muß jetzt meinen Bauch hätscheln.« Sie entließ Tez mit einer knappen Handbewegung. »Gehen Sie – trinken Sie den Burggraben.«
    Tez nahm ihre Laterne auf. Diesmal hallten ihre Sandalen selbstbewußt durch den Saal. Als sie die Außentreppe erreichte, sah sie, daß der feuchte Nebel nach oben gestiegen, daß eine trockene, sternenlose Nacht angebrochen war. Trotz der erstickenden Finsternis brauchte sie nur eine Minute, um an der Seitenfront der Pyramidehinabzuspringen, Mixtla loszubinden und zum Tolca-Tempel aufzubrechen.
     
    Während der dienstfreien Stunden wirken alle öffentlichen Gebäude geisterhaft und unheimlich. Das bekommen Kinder oft zu spüren, wenn sie abends in die dunklen Korridore ihrer Schulen zurückkehren, um an einer Feier teilzunehmen. Auch Tez hatte dieses Gefühl, als sie den Tolca-Tempel betrat. Ohne das Flimmern der Laternen,

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