Der Wein des Frevels
Schweigend glitt der Holovisionsschirm hinauf, durch eine Magnetvorrichtung bewegt, an Seilen gezogen. Er stieß mit dem Gewölbe der Kapelle zusammen.
Sie trat vor, kauerte sich vor die silberschwarzen Reste ihrer jüngsten Phantasiegebilde. Gurgelnd und stinkend sickerten sie ins Erdreich hinab. In wenigen Minuten würden sie für immer verschwunden sein, anonyme Moleküle im Alptraum der Gemeinde…
Tez war Noctus noch nie so nah gewesen. Der Geruch war stark, aber nicht ekelerregend. Vorsichtig tauchte sie einen Zeigefinger hinein, legte ihn auf die Zunge. Süß! Süße Träume! Der Anblick, die Geräusche, der Geruch, die Berührung, der Geschmack – sie hatte alle nur möglichen Tests durchgeführt.
Schmerz durchbohrte ihre Zunge und den Finger an den Stellen, wo die ätzende Süßigkeit geklebt hatte. Tez war bereit. Geduldig wartete sie, bis der Schmerz in ein angenehm erträgliches Pochen überging.
Dann nahm sie einen Krug, der zu neun Zehntel mit Salzwasser gefüllt war, um Noctus in das Gefäß zu schöpfen. Zwei Verschlußkappen – und sie hatte eine zehnprozentige Lösung. Sie schüttelte den Krug.
In ihrer vollkommenen Symmetrie sah die Nadel viel grausamer aus, als Tez sie in Erinnerung hatte. Vielleicht sollte ich Francis bitten, mir die Injektion zu geben, dachte sie. Nein, es soll ja ein Geschenk sein. Nur Mut, Doktor!
Sie stellte den Krug auf den Boden, pumpte die Spritze voll, dann stieß sie den Kolben hinab, bis alles ausgespuckt war – bis auf drei Kubikzentimeter. Drei. Die perfekte, magische Zahl.
Natürlich zögerte sie ein paar Minuten lang. Damit hatte sie gerechnet. Während dieser Zeit stellte sie sich vor, daß sie sich Noctus injizierte, massierte ihren Deltamuskel, kitzelte ihn mit der Nadel. Dann schaffte sie es wie eine furchtsame, zähneklappernde Schwimmerin, die bis zum Nabel in einem eisigen See steht, ihre Gedanken auszuschalten und der Materie ihres Körpers das Kommando zu übergeben.
Das Eintauchen…
Die Nadel war unter ihrer Haut. Der Kolben wurde aktiv – bewegte sich zurück – kein Blut – glitt wieder nach unten, zwang unheimliche Gefühle in ihr Inneres.
»Für die Liebe!«
Tez erwartete nicht, daß die Wirkung augenblicklich eintreten würde. Es waren ja nur drei cm 3 . Und die Wirkung kam auch nicht. Sie zog die Nadel heraus, wickelte sie in das grüne Tuch. Ich muß meine Spuren verwischen, dachte sie, ließ den Bildschirm herabgleiten, setzte die Gehirnschale wieder auf.
Und da setzte die Wirkung ein, durchfuhr sie in wilder Wut. Zuerst wurde ihr Verdauungssystem betroffen. Die knochigen Finger von zehntausend Rattenskeletten zerrten an den Gefängniswänden ihres Magens. Schreiend krümmte sie sich zusammen. Und als der Burggraben in ihr Gehirn vordrang, löste sich der Schmerz in bebende Frivolität auf. Sie wußte, daß sich ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen verzerrte, um zwischendurch auf groteske Weise die Stirn zu runzeln. Ihre Augäpfel kreisten in den Höhlen. Ein psychotischer Regenbogen strömte in die Kapelle, tanzte umher, und als er explodierte, enthüllte er hundert Oktaven des unsichtbaren Spektrums. Ein schrilles, widerwärtiges Klingeln erfüllte die Luft, nahm Gestalt an, bildete namenlose geometrische Formen, um sich dann wieder in ein Klingeln zurückzuverwandeln. Die Kapellenwände stöhnten und pulsierten wie Herzmuskeln.
Tez träumte, daß sie die Elektrode wieder in ihr Großhirn gesteckt hatte. Keine Phantasiebilder tauchten auf. Statt dessen schoß eine Noctus-Fontäne aus ihrem Kopf und begann den Holovisionsschirm zu füllen. Sein Fassungsvermögen wurde erreicht und überschritten. Er zerbrach, doch die Gallenflüssigkeit spritzte nicht heraus, sondern schien sich in Schlangenbewegungen auszubreiten wie ein dunkles, glänzendes Monstrum. Zitternde Tentakel griffen in Tez’ Körper, und plötzlich hatte das Ding ihr Baby gepackt. Es war ein Junge.
Ihr eigener erstickter Schrei weckte sie. Ihr Körper war zu einer verkrampften, bleichen schwangeren Kugel zusammengeballt. Die Halluzination war barmherzig und erlosch.
Finsternis…
Teil drei
Der Apostel
Der Winter bahnte sich seinen Weg, über die Berge, durch die Täler, in die Städte. Das Leben in Tepec begann zu frieren, die Bürger betasteten ihre Mäntel, suchten nach Löchern, die man flicken mußte. Die Gärten verfielen in formlosem Braun. Die Chitzals flohen in die südlichen Obstgärten und hängten sich an gefrorene, fast
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