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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Evolution als ungeheures Pokerspiel, bei dem die Natur niemals pleite machte. Dieser Hartnäckigkeit auf Seiten der Natur waren offensichtlich die gelegentlichen großen Pots zu verdanken (das Auge, die Kiemen, der Daumen, der Flügel), was vermutlich den schmerzlichen Verlust des Brontosaurus und des Neandertalers und so fragwürdige Gewinne wie das räuberische Verhalten von Tieren und Krebsgeschwüren ausgleichen sollte.
    Im Gegensatz dazu sah die verachtete Theorie des Lamarckismus, ebenfalls vom alten Planeten importiert, die Evolution als willkürliche Verbesserung. Das gefiel Tez, denn es war gefühlvoll.
    Ihre erbwissenschaftlichen Experimente befaßten sich mit dem Chactol, einem eingeborenen Fisch, den sie mittels einer Kombination von außergewöhnlichen Elternpaarungen und namenlosem Glück in ihrem Keller bis zur elften Generation hochgezüchtet hatte. Chactols besaßen keine Augen. Als Höhlenbewohner brauchten sie diese nicht. Sie zog ihre Chactols mit geruchlosem Essen auf,umgeben von allgegenwärtigen Feinden, in einer Umwelt, die den Besitz von Augen erstrebenswert machte. In einem jungfräulichen chirurgischen Versuch versah sie ihre erste Chactol-Generation mitschmalen Einschnitten an den Stellen, wo sehende Fische Augenhatten. Die Einschnitte reichten bis ins Gehirn und wuchsen dann zu, wurden von vernarbtem Gewebe verschlossen.
    Die gleiche Operation nahm Tez auch an der zweiten Generation vor, dann an der dritten und vierten. Bei der fünften Generation wurden die Einschnitte nicht mehr von Narben verschlossen, sondern von Hornhäuten.
    Danach nahm sie keine Einschnitte mehr vor. Die elfte Generation wurde mit Augen geboren.
    Die medizinische Ausbildung zwang Tez, ihre Arbeit zu unterbrechen. Als sie am Legendenabend nach Hause kam, war sie verzweifelt, als sie ihre Exemplare tot vorfand. Die ererbten Augen hatten sich zu einer amorphen Masse reduziert. Sie schwor sich, das Experiment eines Tages zu wiederholen. Wenn das Chimec-Hospital jemals einen Forschungstrakt eröffnete, wie es Dr. Zoco fortgesetzt versprach, würde sie das Skalpell an den Nagel hängen, Mool sagen, was sie von ihm hielt, und ihr Leben der Biologie weihen.
     
    AAARRRRRRRNNNNNNNNNNN. Was war das?
    Tez blickte zum Wald zurück. Alles war so wie immer, Sonnenflirren, flatternde Blätter, gewundene Ranken. Dort drüben erhob sich ein hoher, schweigender Steinaquädukt, während in noch weiterer Ferne die Bibliothek von Iztac und das Chimec-Hospital die Baumwipfel mit ihren Tempeln überragten.
    Sie wandte sich um, schaute über das Ödland hinweg, das einen Kilometer breit war, auf die Mauer, die aus dieser Entfernung und im Licht dieser Sonne betrachtet nur wie ein langer Sandwall aussah – und keineswegs wie die unüberwindliche Barriere, als die sie konzipiert war. Und als Tez weiterging, schien der Lärm anzuschwellen.
    Es gab keinen Zweifel. Das Geräusch drang von der anderen Seite der Mauer herüber, wahrscheinlich von den wandernden heißen Dünen am anderen Ufer des Flusses, der aus Haß gemacht war. Führten die Neurovoren, die grausigen Verschlinger der Zentralnervensysteme, irgend etwas im Schilde?
    Die schwächste Erinnerung, der winzigste Gedanke an die Neurovoren, die geringfügigste Erwähnung dieser Geschöpfe genügten schon, um alle Quetzalianer bis ins innerste Mark zu erschüttern. Ein Arzt tauchte vor Tez’ geistigem Auge auf. »Tut mir leid, meine Liebe, daß ich Ihnen das sagen muß, aber Sie haben einen Tumor. Sie sind dem Tode geweiht…« Genauso fühlte sie sich in diesem Augenblick.
    Wenn auch nur ein Dutzend lebender Quetzalianer jemals einen Wilden gesehen hatte, so war die Neurovoren-Phobie in der Seele jedes Bürgers tief verwurzelt. Und es gab immer noch phantasielose Väter und Mütter, die sich mit der Behauptung Respekt zu verschaffen suchten, die Gehirnfresser würden eine besondere Vorliebe für undankbare kleine Mädchen hegen, weißt du, und ich fürchte, die Gehirnfresser kommen mitten in der Nacht und stehlen kleine Jungs, die ihr Gemüse nicht essen, und es ist allgemein bekannt, daß die Gehirnfresser den Eltern, die sich ihres frechen Nachwuchses entledigen wollten, ungeheure Goldmengen anböten.
    Wenn diese Kinder dreizehn wurden, erzählte man ihnen von den Fakten des Lebens. Nicht von den sexuellen Fakten, die sie schon mit vier Jahren kennenlernten, gemeinsam mit zusammengesetzten Brüchen und Latein, sondern von den Erbfakten. Um die Wahrheit zu sagen, die Neurovoren waren

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