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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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der Neurovore bleibt nicht auf den ausgetretenen Wegen.«
    »Ich werde mit Ihnen Schritt halten«, erwiderte Ticoma schlicht.
    Ob sie sich seinem Tempo anpassen konnte oder nicht, war bald keine Frage mehr. Wenige Minuten später rannte sie voran, und ihre Laterne wurde Burnes Führerin.
    Ticoma war in Oaxa aufgewachsen, der nördlichsten Dschungelstadt, wo sich die Kinder ein hübsches kleines Vermögen verdienen konnten, indem sie Chitzals fingen und an die Krankenhäuser verkauften, wo der Murm verarbeitet wurde. Sie hatten jeden Baumstumpf und jeden Pfad im Dschungel kennengelernt. Sie verstand die Stimmungen des Urwalds, sah seine Verwandlungen voraus, betrauerte seine Verluste, befruchtete seinen Boden mit ihrem Urin.
    Nun kehrten ihre Talente zurück, und sie entdeckte die Zehenspuren des Neurovoren mit denselben unbeirrbar scharfen Augen, die sie einst benutzt hatte, um die linkischen Fellkugeln aufzustöbern. Burne bebte vor Bewunderung, und um Mitternacht wollte er mit ihr schlafen.
    Eine Kakophonie schrillte aus dem Dunkel. Irgendwo vor Ticoma stimmte ein Orchester aus fremden Kreaturen, die alle verschiedenen Welten entstammten, seine Instrumente. »Was ist das?« rief Burne.
    »Der Geist des Großen Bayou. Laufen Sie nicht davon!«
    Hartnäckig wie ein Schatten folgte er Ticoma, während sie wie eine Seiltänzerin über herabgefallene Äste balancierte und anmutig von Baumstümpfen auf Felsen und von Wurzeln auf Baumstümpfe sprang. Ringsum hockten glatte Bäume auf ihren bloßgelegten Wurzeln wie Zähne auf einem eiternden Gaumen. Überall hing ätzendes Moos herab und veranlaßte Burne, unschmeichelhafte Vergleiche mit dem Bauch einer säugenden Hündin anzustellen. Und wenn man alles miteinander mischte, bekam man einen heimtückischen Brei aus Wasser, Schlamm, Schlick und Sand, wo zahllose Baumstämme umherschwammen, beklebt mit zwitschernden Reptilien, deren schöne Augen, mit Leuchtbakterien gefüllt, die Wanderer wie eine Galaxis aus Doppelsternen umschwirrten.
    Im Morgengrauen lag der Sumpf glücklicherweise hinter ihnen. Besser noch – die Neurovorenspur folgte einer glatten, von Menschenhand geschaffenen Straße. Verglichen mit der vergangenen Nacht, während der sie sich durch wilde Reben und Schleim gekämpft hatten, erschien ihnen die Weiterreise mühelos. Burne nutzte den Vorteil seiner Neubelebung und befahl zu laufen.
    Als er seinen Scout einholte, glitt ein kleiner Teich, so glasklar wie ein Spiegel, in sein Blickfeld, und Ticoma schlug vor, eine Ruhepause einzulegen. Dankbar sanken sie zu Boden, erfrischten ihre schmutzigen Gesichter mit kühlem Wasser. Ticoma sah lächelnd zu Iztac auf und sagte spielerisch: »Jetzt brauchen wir deinen kleinen Bruder nicht mehr.« Sie hob die Öllaterne hoch, öffnete die Glaskugel, blies hinein. Graue Rauchfinger kräuselten sich vom Docht empor. Burne folgte Ticoma, als sie sich erhob und der ehrfurchtgebietenden aufsteigenden Verwandten der Laterne entgegeneilte.
     
    Die letzte Zickzacklinie des Neurovoren führte vom starren Zeigefinger seines letzten Opfers, eines Eremiten mit großen Händen, wulstigen Lippen und – seit kurzem – einem ausgenommenen Kopf, von der Straße weg, wie die blutigen Fußspuren anzeigten, in einen großen Obstgarten, eine Quelle jener exquisiten einheimischen Frucht, der Opo. Als Ticoma die Leiche sah, übergab sie sich beinahe. Burne zog sie weiter, aus dem Grasboden des Obstgartens. Unter dem ersten Baum blieben sie stehen, pflückten zwei Früchte und saugten daran, bis das süße Opo-Blut in ihre Kehlen hinabrann.
    Zu beiden Seiten zogen sich gerade Alleen dahin, geformt von Opo-Bäumen, die stumm und still dastanden, während die Opos die Rationalität der Anlage mutwillig zerstörten, indem sie zu x-beliebigen Zeitpunkten und an willkürlich gewählten Stellen herunterplumpsten. Burne schaute eine Allee hinab, ging weiter, schaute wieder eine Allee hinab, ging weiter, schaute, ging…
    Die Schrecksekunde war total, eindringlich, markerschütternd.
    Am Ende einer Allee stand ein sabbernder Störfaktor in der friedlichen, nur vom Aufprall herabfallender Opos durchbrochenen Stille mit blitzenden Augen und verrotztem Bart. Er öffnete den Mund und alle Abfälle der Hölle verbreiteten ihren Gestank auf einmal.
    War es ein visueller Reiz, ein Geräusch oder ein Geruch, der den Neurovoren von der Ankunft eines Feindes erzählt hatte? Wie auch immer, er stürmte los, griff an, die linke Pfote um ein Werkzeug

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