Der Wein des Frevels
Bibliothekstrakt aufspürten, der launischerweise Vogelflügel genannt wurde. Loi entpuppte sich als schrullige alte Frau mit einem hüpfenden Gang und Grübchen im faltigen Gesicht.
»Vielleicht haben Sie schon von uns gehört«, sagte Francis. »Dr. Newman und Dr. Lostwax…«
Sie dachte nach, dann zwinkerte sie lächelnd. »Die Herren aus dem Weltall? Ihre Artikel sind superb, Dr. Lostwax, die absoluten Höhepunkte unserer Enzyklopädie.« Loi wußte auch, daß Burne der Mann war, der töten konnte, aber sie wußte ihm trotzdem etwas Nettes zu sagen. »Was für eine unschätzbare Ehre es doch ist, daß ich unseren Erlöser kennenlernen darf!«
Ihre Reaktion auf Lolocs Brief verdeutlichte, daß sie nicht zu jenen Menschen gehörte, die freimütig über Religion diskutieren können. Zolmecs Mystik war in ihrer wirren Gedankenwelt zu einem Tabu geworden, fast im gleichen Maße wie Geschlechtsverkehr und Exkremente. »Aber diese Notizen sieht sich doch niemand mehr an. Die Leute reden nur noch von Maschinen.« Man sah ihr an, daß sie es vorgezogen hätte, »Scheiße« zu sagen.
»Es ist uns bewußt, daß Loloc uns großes Vertrauen schenkt«, erwiderte Francis.
Loi Zeclan hob einen Zeigefinger und legte ihn auf das Grübchen in ihrem Kinn. »Folgen Sie mir.«
Sie trippelte aus dem Vogelflügel, und Francis und Burne versanken in jene Art von indifferentem Somnambulismus, der viele Leute befällt, wenn sie durch fremde Korridore geführt werden. Die Reise endete vor einer Tür mit der Aufschrift UNGEBUNDENE SCHRIFTEN. Loi öffnete sie, weigerte sich aber, den Raum zusammen mit gottlosen Menschen zu betreten. »Unter Nummer zwölf finden Sie alles, was Dr. Vij jemals geschrieben hat.«
Das Zimmer war groß genug für einen Marmortisch, zwei Wissenschaftler aus dem All und zwanzig große, mit Nummern beschriftete Kisten. Francis nahm die Nummer zwölf vom Regal. Sie hatte ein beträchtliches Gewicht. Er stellte sie auf den Tisch, griff hinein und zog lose, staubige Blätter heraus, mit spinnenartiger Handschrift bedeckt. Burne nahm ihm die Hälfte aus der Hand. »Das ist mein nächtliches Pensum.«
Um Mitternacht kämpften sie sich immer noch durch Vijs Notizen. Die Dame sparte nicht mit brillanter Komplexität und selbstgefälliger Humorlosigkeit, und das Ende ihrer Forschung schien in immer weitere Fernen zu rücken.
Schließlich, kurz vor dem Morgengrauen, begann Francis unkontrolliert zu grinsen. Er schob eine Seite unter Burnes Nase. Und darauf stand in simpler biologischer Ausdrucksweise, in schlichten chemischen und begreiflichen physikalischen Erklärungen, in rudimentären, informativen theoretischen Abhandlungen und in klaremEnglisch eine ausführliche Enträtselung der Flüssigkeit namens Noctus.
»Mehrere Kritiker meines Werks, vor allem Karnstein, haben die extreme Verletzlichkeit beklagt, die durch eine geplante Katharsis entstehen würde. >Es ist ein in sich geschlossenes System<, schreibt Karnstein (persönliche Korrespondenz). >Ein feindlicher Außenseiter könnte uns massakrieren.<
Deshalb fühle ich mich verpflichtet, die Frage zu bedenken: Was wird geschehen, wenn unsere Nation invasiert wird?
Zu Verwendungszwecken schlage ich vor, verdünnte Noctus in den Blutkreislauf freiwilliger Quetzalianer zu injizieren. Tierversuche könnten eruieren, ob die Salzlösung injiziert oder geschluckt werden soll, ob die Injektion intravenös, intramuskulär oder subkutan sein müßte. Natürlich habe ich keine genauen Daten, aber meine Berechnungen haben ergeben, daß bei einer intramuskulären Injektion von einer zwanzigprozentigen Lösung, bei einer Dosis von einem cm 3 pro zehn Kilogramm des Körpergewichts, ein Organismus entstehen wird, der für sechs Tage imstande ist, bescheidene Aggressionen zu empfinden, die allerdings provoziert werden müßten. Danach wird die Droge entweder von Bakteriophagen verschlungen oder durch normale Enzymen-, Drüsen- und Duktusprozesse neutralisiert.
Wenn sechs Tage nicht ausreichen, einen Eindringling zu besiegen, sollte es sogar möglich sein, eine Armee aufrechtzuerhalten, mittels sorgfältig geplanter Wiederholungsimpfungen. Die erste müßte nach sechs Tagen vorgenommen werden, die zweite nach zwölf, die dritte nach vierundzwanzig und so weiter. Die Riten sollten keinesfalls abgesagt werden, da ein solcher Präzedenzfall die ganze Ernte jener mühsamen, blutigen Jahre vernichten könnte.«
In Gedanken prosteten Francis und Burne Dr. Janet Vij zu.
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