Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
einen Ingenieur.) Und trotz der abgenutzten und daher
abgewerteten Lobesworte konnte man nicht umhin, den Mann mit größerem Interesse
zu betrachten als ein paar Sekunden zuvor, eine Tatsache, für die sie sich
selbst verachtete. Eine Verbeugung vor verliehener Macht. Sie bemerkte auf
einmal, was sie vorher nicht bemerkt hatte: daß die beiden anderen Männer sich
leicht in Richtung des Frisch-Gesalbten neigten, als würden ihre Körper von
einem starken Magneten zu ihm hingezogen.
»Und Sie, Ms. Fallon, würden Sie sagen, daß sich Ihre Auffassung der
Liebe eher der Liebe selbst als der Lektüre über Liebe verdankt?« Seizeks
Sprache klang verquollen und vermittelte den Eindruck, als könnte sich jeden
Moment ein Sprühregen aus Zischlauten über sie ergießen.
Wieder eine Unterhaltung, von der sie nur Bruchstücke mitbekam. Der
dritte Schriftsteller nahm überhaupt keine Notiz von ihr, als wäre sie
unsichtbar. Es wäre unfair gewesen, ihn gleich als schwul zu bezeichnen. Wie
seltsam, dachte sie, daß Männer über Liebe sprachen, über Liebe gesprochen
hatten, bevor sie sich zu ihnen gesellt hatte. Dabei interessierte dieses Thema
doch angeblich nur Frauen.
Sie antwortete, ohne zu zögern. »Der Erfahrung. Noch niemand hat
eine zutreffende Beschreibung der Ehe geliefert.«
»Ein Roman kann das nicht, meinen Sie?« Das sagte der Australier mit
seinem breiten Akzent. »Die Ehe eignet sich nicht für Kunst. Jedenfalls nicht
für befriedigende Konstruktionen oder lesenswerte Dialoge.«
»Sie schreiben über Liebe«, sagte der Mann, den sie nicht als schwul
bezeichnen wollte, zu Linda und machte sie damit plötzlich sichtbar. Sie konnte
nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, weil er ihre Arbeit kannte.
»Ja, das ist richtig«, sagte sie, keineswegs verlegen, ihren
Anspruch in der Runde geltend zu machen. »Ich halte sie für das zentrale Drama
unseres Lebens.« Sofort schränkte sie ihre kühne Behauptung wieder ein.
»Zumindest für die meisten von uns.«
»Nicht den Tod?« fragte Seizek, ein Betrunkener, der nach Streit
suchte.
»Den halte ich für einen Teil der gesamten Veranstaltung. Alle Liebe
ist zum Scheitern verurteilt angesichts des Todes.«
»Aber Sie glauben nicht, daß die Liebe den Tod überdauert«, sagte
der Australier.
Was sie nicht tat, obwohl sie es versucht hatte. Nach Vincent.
»Warum zentral?« fragte der dritte Mann, der schließlich einen Namen
hatte: William Wingate.
»Sie enthält alle theatralischen Möglichkeiten. Leidenschaft,
Eifersucht, Betrug, Gefahr. Und ist nahezu universell. Sie ist etwas
Außergewöhnliches, das durchschnittlichen Menschen widerfährt.«
»Es ist aber nicht modern, über Liebe zu schreiben, nicht wahr?«
sagte Seizek herablassend.
»Nein. Aber für mich ist Mode nicht von Belang.«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Seizek schnell, denn
offensichtlich wollte auch er nicht belanglos sein.
Linda zog sich vorsichtig aus der Unterhaltung zurück, weil sie
plötzlich Hunger verspürte. Sie hatte seit dem Frühstück in ihrem Hotelzimmer
in der über tausend Kilometer entfernten Stadt nichts mehr zu sich genommen
(wenn man von den ungenießbaren kleinen Nachos-Ecken einmal absah). Sie fragte
die Männer, ob sie ihnen etwas vom Büfett mitnehmen solle, sie hole sich
Cracker, sie sei völlig ausgehungert, da sie seit dem Frühstück nichts gegessen
habe. Nein, nein, die Männer wollten nichts, aber natürlich müsse sie sich
etwas holen. Die Salsa sei ganz ordentlich, behaupteten sie, und es würde
sicher noch eine Stunde dauern, bis man etwas anderes zu essen bekäme. Ob sie
das Restaurant kenne? Als sie sich von ihnen abwandte, dachte sie, daß ihr vor
einem oder vielleicht zwei Jahren einer der Männer zum Büfett gefolgt wäre und
den Anlaß als Gelegenheit genutzt hätte. Das ist die Ironie des Alters, dachte
sie. Als die Aufmerksamkeit noch allgegenwärtig war, hatte es sie gestört.
Bei den kleinen bunten Schälchen blieb es den Gästen überlassen zu
erraten, womit sie gefüllt waren: das Grüne mochte kalte Avocadosuppe sein, das
Rote war zweifellos die ordentliche Salsa und das Rosafarbene möglicherweise
ein Shrimp- oder Krabbendip. Das Grau-Beigefarbene fand sie verblüffend, da es
sich beim besten Willen nicht um eine ansprechende Farbe für ein Nahrungsmittel
handelte. Sie griff nach einem kleinen Pappteller – das Management hatte sich
nicht auf großen Appetit eingerichtet – und nahm das Leiserwerden der Geräusche
wahr, bevor es
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