Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
begann er und
brach ab.
»Wann liest du?«
»Heute abend.«
»Ich auch.«
»Konkurrieren wir miteinander?«
»Ich hoffe doch nicht.«
Es ging das Gerücht, daß Thomas nach vielen fruchtlosen Jahren
wieder schrieb und daß seine Arbeit außerordentlich gut sei.
Unerklärlicherweise war er in der Vergangenheit bei Preisen nicht
berücksichtigt worden, obwohl man allgemein der Ansicht war, daß er, wenn er
sich in Höchstform befand, der Beste war.
»Bist du heute angekommen?« fragte sie.
»Gerade eben.«
»Und woher?«
»Aus Hull.«
Sie nickte.
»Und du?« fragte er.
»Ich bin am Ende einer Lesereise.«
Er neigte den Kopf zur Seite und setzte zu einem Lächeln an, als
wollte er Beileid sagen.
Ein Mann wartete ungeduldig an Thomas’ Seite, um zu Wort zu kommen.
»Sag mir«, fuhr Thomas fort, ohne den Mann neben sich zu beachten, und beugte
sich vor, damit nur sie ihn hören konnte. »Bist du meinetwegen Schriftstellerin
geworden?«
Sie erinnerte sich, daß Thomas’ Fragen oft verblüffend direkt und
fast beleidigend waren, obwohl man ihm immer verzieh. »So haben wir uns
kennengelernt«, erinnerte sie ihn.
Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. »Das stimmt.«
»So war ich eigentlich nicht. Wie damals in dieser Klasse.«
»Du warst durchaus so, finde ich. Der Rest war Schwindel.«
»Der Rest?«
»So zu tun, als seist du leicht zu haben.«
Leicht zu haben. Seit Ewigkeiten hatte sie diesen Ausdruck nicht
mehr gehört.
»Du bist jetzt mehr du selbst«, sagte er.
»Woher willst du das wissen?« fragte sie herausfordernd.
Er hörte den scharfen Unterton in ihrer Stimme. »Dein Körper und
deine Gesten vermitteln den Eindruck, daß du mehr zu deinem Selbst gefunden
hast, oder zu dem, was ich für dein Selbst halte.«
»Es sind nur die mittleren Jahre«, sagte sie, gleichzeitig sich und
ihn abwertend.
»Sie stehen dir gut.«
Sie wandte sich ab angesichts des Kompliments. Der Mann neben Thomas
gab nicht auf. Hinter ihm standen andere, die dem zurückgezogen lebenden
Dichter vorgestellt werden wollten. Sie entschuldigte sich und ging durch die
Schar der Bewunderer und Schmeichler hindurch, die an ihr natürlich nicht
interessiert waren. Es war nichts, sagte sie sich erneut, als sie die Tür
erreichte. Jahre waren vergangen, und das Leben hatte sich inzwischen
verändert.
Sie stieg in den Aufzug, der Ewigkeiten zu brauchen schien, bis
er ihr Stockwerk erreichte. Sie schloß die Tür ihres Zimmers, ihres
vorübergehenden Zufluchtsorts. Das Paket mit den Festivaldrucksachen lag unter
ihrem Mantel, achtlos hingeworfen wie eine ausgelesene Zeitung. Sie saß auf dem
Bett und sah die Liste der Festivalteilnehmer durch, und da war er, sein Name,
der plötzlich fetter gedruckt wirkte als die Namen der anderen. In der Lasche,
hinter dem weißen Plastikanstecker mit ihrem Namen, fand sie einen
Zeitungsausschnitt mit der Ankündigung des Festivals. Das Foto, mit dem der
Artikel illustriert war, zeigte Thomas, zehn Jahre jünger. Er hatte das Gesicht
zur Seite gedreht, um die Narbe zu verbergen. Dennoch war etwas Kühnes in
seinem Ausdruck – ein anderer Thomas als der, den sie einst kannte, ein anderer
Thomas als der, den sie jetzt gesehen hatte.
Sie erhob sich vom Bett und vertrieb die leichte Panik durch
Bewegung. Ihre Begegnung nach so vielen Jahren hätte ein großes Ereignis sein
können, obwohl sie wußte, daß alle wichtigen Ereignisse in ihrem Leben schon
geschehen waren. Sie überlegte, ob sie einfach im Hotelzimmer bleiben und nicht
an dem Abendessen teilnehmen sollte. Sicherlich hatte sie dem Festival
gegenüber keine andere Verpflichtung, als pünktlich zu ihrer Lesung zu
erscheinen, und dafür konnte sie sich ein Taxi rufen. Susan Sefton würde sich
vielleicht Sorgen machen, aber Linda konnte in dem Restaurant eine Nachricht
hinterlassen: Sie fühle sich nicht wohl, sie brauche Ruhe nach dem langen Flug.
Was plötzlich zutraf: Sie fühlte sich nicht wohl; sie brauchte Ruhe. Obwohl der Schock, Thomas nach all den
Jahren wiedergesehen zu haben, für ihr Unwohlsein verantwortlich war. Das und
ein damit verbundenes Schuldgefühl, ein fast unerträgliches Schuldgefühl
inzwischen, daß sie in ihrem Leben Ordnung gekannt hatte, Verantwortung, und
daher einsehen mußte, wie unverzeihlich ihre Handlungen gewesen waren. Vor
Jahren waren die Schuldgefühle von beschämend unerträglichem Schmerz überdeckt
gewesen – und von Begierde und Liebe. Liebe hätte sie vielleicht großzügig
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