Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
und
selbstlos werden lassen, aber sie war weder das eine noch das andere geworden.
Sie ging ins Badezimmer und hielt das Gesicht nahe an den Spiegel.
Ihr Eyeliner war unter dem linken Auge zu einem peinlichen Rand verschmiert. Es
war eine Sache, Kunstgriffe anzuwenden, dachte sie, aber eine ganz andere, sie
schlecht zu beherrschen. Ihr Haar hatte in der Feuchtigkeit seine Fülle
verloren und sah zusammengefallen aus. Sie bückte sich und zerzauste es mit den
Fingern, aber als sie sich wieder aufrichtete, fiel es in seine vorherige Form
zurück. Das Licht im Badezimmer war wenig schmeichelhaft. Sie weigerte sich,
die Schäden zu registrieren.
War sie wegen Thomas Dichterin geworden? Es war eine berechtigte,
wenn auch unverschämte Frage. Oder hatte eine gemeinsame Sichtweise sie
zueinander hingezogen? Thomas’ Gedichte waren kurz und schlicht, mit brillanten
Nebeneinanderstellungen, so daß man nach dem Lesen eines Bandes den Eindruck
hatte, durchgerüttelt worden zu sein. Als wäre man über eine Straße mit vielen
Windungen und Kurven gefahren; als hätte ein Mitfahrer ins Steuer gegriffen und
einen Unfall riskiert. Wohingegen ihre Arbeit langsam und träumerisch war,
elegischer, eine ganz andere Form.
Sie wanderte ins Schlafzimmer zurück, eine Frau, die für kurze Zeit
vergessen hat, wo sie ist, und sah das Telefon, die Lebensader zu ihren
Kindern. Sie las die Anweisung für Ferngespräche. Sie müßte entsetzlich hohe
Zuschläge zahlen, aber darum konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Sie setzte
sich auf den Bettrand, wählte Marias Nummer und war enttäuscht, als Maria sich
nicht meldete. Linda öffnete den Mund, um eine Nachricht zu hinterlassen –
Leute, die anriefen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, fand sie ärgerlich –,
aber obwohl sie unbedingt etwas zu ihrer Tochter sagen wollte und noch
dringender die Stimme ihrer Tochter hören wollte, fiel ihr nichts ein. Ein Mann, den ich dir gegenüber nie erwähnt habe, hat plötzlich
an meiner Fassade gekratzt. Unlogisch oder nicht, Linda dachte an Ovum
und Sperma und an eine einzelne Zelle, die eine zarte Membran durchstieß. Sie
legte den Hörer auf und fühlte sich sprachlos und frustriert. Sie lehnte sich
zurück und schloß die Augen.
Sie stellte sich ihre Kinder vor, das eine kräftig, das andere
nicht, und seltsamerweise war es der Junge, der zarter war. Als sie an Maria
dachte, fielen ihr lebhafte Farben und Klarheit ein (wie ihr Vater sagte Maria
offen ihre Meinung und machte sich nur selten klar, daß die Folgen
verhängnisvoll sein könnten), doch wenn sie an Marcus dachte, fielen ihr
verblaßte Farben ein, einst leuchtend, jetzt aber matt, obwohl er erst
zweiundzwanzig war. Der arme Junge hatte Lindas irisches Aussehen geerbt,
während Vincents robusteres italienisches Blut für Marias dunkle Augenbrauen
und das blauschwarze Haar verantwortlich war, das die Leute veranlaßte, sich
nach ihr umzudrehen. Und obwohl Vincent zuweilen Schatten im Gesicht hatte, vor
allem unter den Augen (und wenn diese Schatten frühe Anzeichen von Krankheit
gewesen wären, hätte man sie nur als solche erkannt, wenn man Bescheid gewußt
hätte?), war Marias Haut rosig und glatt, nachdem die glücklicherweise
vorübergehenden Entstellungen der Pubertät vorbei waren. Wie schon so oft,
fragte sich Linda erneut, ob ihre Reaktion auf das Aussehen ihrer Kinder deren
Persönlichkeit mitgeprägt hatte; wenn sie ihren Kindern nicht ständig zu
verstehen gegeben hätte, daß Maria immer geradeheraus wäre, während sich unter
Marcus’ äußerer Schale etwas Untergründiges ausformte. (Wie unpassend Marcus
all die Jahre seinen Namen empfunden haben mußte – Marcus Bertollini widerlegte
alle Erwartungen, die jemand an ihn stellte, da er so viel mehr wie ein Phillip
oder Edward aussah.) Sie hielt diese Gedanken über ihre Kinder nicht für
unfair; sie liebte beide gleich stark. Sie hatten nie miteinander konkurriert,
da sie schon in frühester Kindheit gelernt hatten, daß kein Wettstreit gewonnen
werden konnte.
Die Ziffern auf der Uhr leuchteten, als es im Raum dunkler wurde.
Dichter und Schriftsteller würden sich jetzt vor dem Hotel versammeln wie
Schulkinder, die sich auf einen Ausflug begaben. ›Ich werde hinuntergehen‹,
entschied sie plötzlich. ›Ich werde mich nicht davor fürchten.‹
Am Horizont waren die Wolken aufgerissen, das rosafarbene Licht
versprach einen schöneren Tag. Linda registrierte alles: die Art, wie eine
Frau, die in den Bus stieg, ihr
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