Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
sein, mit mindestens zehntausend Mann!«
»Streich davon die Hälfte weg und glaub von dem Rest auch nur ein Viertel«, spottete Anneliese. »Aber ich glaube, ich werde Nizhoni in den Laden schicken. Sie wird gewiss den Kaffee mitbringen.«
Mit einem Seufzen überreichte Gisela ihrer indianischen Freundin das Geld und sah zu, wie Nizhoni das Haus verließ. Sie selbst war so unruhig, dass sie am liebsten ihr Pferd vor den Wagen gespannt hätte, um nach Louisiana aufzubrechen. Doch davon wollten die anderen nichts wissen, und sie fand nicht die Kraft, sich gegen sie durchzusetzen.
Wenig später kam Nizhoni mit einem großen Packen zurück. »Jack ist verrückt – und sein Herr noch mehr! Sie verkaufen alles, was sie im Laden haben, und das zu so billigen Preisen, dass es kaum zu glauben ist«, berichtete sie kopfschüttelnd.
»Sag bloß, du hast all das für das Geld bekommen, das sonst gerade mal für Kaffee gereicht hätte?«, fragte Anneliese verwundert.
»Ja! Eigentlich wollte ich es nicht, doch Jack hat mir das Geld nicht zurückgegeben, sondern mir diese Sachen aufgedrängt. Dabei weiß ich nicht einmal, ob wir sie brauchen können!« Nizhoni klang hilflos, denn der Handelsgehilfe hatte sie schlichtweg überfahren.
Doch nach einem Blick auf die Lebensmittel war Anneliese hochzufrieden. »Das reicht für die nächste Woche an Kaffee, Tee und Zucker. Auch für das andere Zeug werden wir Verwendung finden. Doch jetzt macht weiter! Ich höre mehrere Gäste die Treppe herabkommen, und die werden ihr Frühstück haben wollen.«
Diesmal packte auch Gisela mit an, weil sie nicht länger in der Küche sitzen und ihren trüben Gedanken nachhängen wollte. Sie fragte sich jedoch, weshalb der Händler all seine Waren losschlagen wollte, nachdem er bislang die Preise so sehr erhöht hatte, dass es in seinem Laden bereits zu Schlägereien gekommen war. Auf jeden Fall war es ein schlechtes Zeichen. Da sie die anderen nicht mit ihren Ängsten belasten wollte, zog sie sich, als die Tische gedeckt waren, in die Waschküche zurück und legte sich hin.
Zuerst glaubte sie, nicht einschlafen zu können, versank dann aber in einen wilden Alptraum, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart mischten und sie durch eine Landschaft floh, die in einem Augenblick dem winterlichen Russland glich und im nächsten Texas. Russische Kosaken und mexikanische Dragoner ritten Seite an Seite, um sie, Walther und andere, die sie schemenhaft erkennen konnte, zu jagen. Jedes Mal, wenn sie glaubte, ihre Verfolger endgültig abgeschüttelt zu haben, tauchten diese aus einer anderen Richtung wieder auf, und die Hetzjagd begann aufs Neue.
Gerade als ein Kosaken-Dragoner mit seiner Lanze auf sie zielte, wurde Gisela durch ein heftiges Rütteln an der Schulter geweckt. »Was ist los?«, fragte sie schlaftrunken und brauchte einige Augenblicke, um zu erkennen, wo sie war.
Neben ihr stand Gertrude mit zornigem Gesicht. »Dein Pferd! Es ist gestohlen worden! Einer von Annelieses Gästen hat es aus dem Stall geholt und ist damit fort. Nizhoni verfolgt ihn auf ihrer Stute und will ihm den Gaul wieder abnehmen.«
»Was?« Gisela schrak hoch und starrte Gertrude entsetzt an. »Aber wir brauchen das Pferd, um den Wagen zu ziehen.«
»Das sagte Nizhoni auch. Sie hat den Diebstahl bemerkt, als sie die Pferde füttern wollte. Ein Junge von nebenan konnte ihr sagen, wer es gestohlen hat. So eine Gemeinheit! Ich könnte den Kerl …«
Der Rest erstickte in einem Weinkrampf. Zu viel war auf Gertrude hereingeprasselt. Ihr Mann hatte sich heimlich von ihr scheiden lassen, ihre Freundin Charlotte war gestorben, und nun kam auch noch der Diebstahl des für alle so wichtigen Pferdes hinzu.
Giselas Gedanken galten Nizhoni. Ihre Freundin war mutig und jetzt sicher auch sehr zornig. Doch was konnte sie als Indianerin schon ausrichten, wenn der Dieb behauptete, das Pferd würde ihm gehören? Die amerikanischen Siedler würden sich schon deshalb auf seine Seite stellen, weil er einer der ihren war.
Lass das Pferd sein, Nizhoni, und komm zurück! Josef und ich brauchen dich, und mein ungeborenes Kind ebenfalls, flehte Gisela in Gedanken und fühlte sich so hilflos wie selten zuvor.
13.
N izhonis erster Zorn wich schnell. Ein Jäger muss kühles Blut bewahren, ermahnte sie sich, und wenn sie das gestohlene Pferd zurückholen wollte, war sie auf ihren Verstand angewiesen. Sie wusste, dass weiße Männer ihr nicht glauben würden, wenn sie erklärte, dieses Pferd wäre
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