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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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normal beim Kochen.«
    »Ich glaube, um sehr gut zu kochen, muss man ziemlich klug sein.«
    »Wirklich? Wahrscheinlich war ich deshalb nie eine ordentliche Köchin. Nicht klug genug. Ich habe immer Hühnchen und Rinderfilet gekocht und Klöße gemacht. Das war’s auch schon so ziemlich. Ansonsten habe ich, als ich allein war, Fertiggerichte von Marks & Spencer gegessen.«
    Ruby sah blass und müde aus. Sie habe eine Darmgrippe gehabt, sagte sie, weshalb sie auch den Schweinebraten nicht habe essen können. »Ich habe nur ein bisschen von der Füllung gekostet, Lev«, sagte sie. »Mit etwas Rosenkohl. Das war eine perfekte kleine Mahlzeit.«
    »Ich bin froh, dass Sie mögen ...«
    »Jedenfalls bin ich auf dem Weg der Besserung, nur mit dem Schlafen ist es noch sehr schlecht.«
    Lev sagte: »Mein Freund Rudi, er schläft immer so gut. Wie ein Baby. Er hat Glück darin. Aber ich nicht.«
    »Nein. Nun, das ist Pech. Das bekommt man in die Wiege gelegt, sagen sie. Und ich habe jetzt solche Träume, Albträume über mein nutzloses Leben. Nacht für Nacht. Aber was kann ich dagegen tun?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Das Einzige, was ich noch tun kann, ist, mein Testament zu ändern. Ich habe stapelweise Geld − alles geerbt, nichts aus anständiger Arbeit. Ich könnte Afrika noch mehr vermachen. Oder irgendeiner Einrichtung in meinem geliebten Indien. Ich könnte eine Stiftung gründen. Das wäre doch auch möglich? Was denken Sie, Lev? Was wäre das Beste? Ich habe Berkeley gefragt − Captain Brotherton −, doch der sagte nur: ›Sehen Sie zu, dass das Finanzamt nichts kriegt.‹ Aber ich sagte: ›Berkeley, wieso sollte das Finanzamt es nicht kriegen? Steuern bedeuten doch Straßen und Krankenhäuser und Unterkünfte für die Obdachlosen?‹ Er schien aber nicht zu begreifen, wie wichtig die sind. Das liegt sicher an seiner Erziehung oder an seinem abgeschotteten Leben bei der Marine.«
    »Was ist mit Geld für Ihre Kinder?«, fragte Lev.
    Ruby machte eine Bewegung in ihrem Stuhl. Sie schloss die Augen. »Ich sehe meine Kinder kaum noch«, sagte sie. »So etwas kommt in den besten Familien vor. Sie glauben, Ihre Kinder werden immer für Sie da sein, aber dann stellt sich heraus, dass Sie sich irren. Und plötzlich erkennen Sie: In deren Kopf existieren Sie nicht einmal mehr.«
    Lev wartete, dass Ruby weitersprach. Aber sie faltete ihre schwer beringten Hände vor dem Busen, wie jemand, der sich schlafen legt. Lev saß schweigend zu ihren Füßen, auf einem Hocker aus Kaschmir.
    »Genug von mir«, sagte sie nach einer Weile. »Erzählen Sie mir von Ihrem Leben.«
    Lev schaute weg. Draußen hatte der Regen aufgehört, und schwache Sonnenstrahlen fielen auf das versprengte Grün. »Darf ich eine Zigarette anzünden?«, fragte er.
    »Ja«, sagte Ruby. »Tun Sie die Asche in die Schale da mit den Blütenblättern. Die müssen sowieso weggeworfen werden.«
    Lev steckte sich eine Silk Cut an. Seit er neuerdings so viele Stunden ohne zu rauchen verbringen musste, waren Zigaretten so köstlich wie Bergluft für ihn. Er inhalierte tief. Dann wandte er sich Ruby zu und sagte: »Mein Leben ist ein Rätsel. Ist das das Wort?«
    »Ich glaube schon, ja.«
    »Ich fühle ... ich weiß gar nichts. Ich warte − verstehen Sie? Sie verstehen mich? Ich denke: Eines Tages, Lev, wirst du die Zukunft kennen . Du wirst alles klar sehen. Ich arbeite und warte. Aber ich weiß nichts.«
    »Erzählen Sie mir von der Vergangenheit.«
    Lev seufzte. Dann begann er von Marina zu erzählen. Ruby hörte aufmerksam zu und aß hin und wieder eine der Trauben, die Lev mitgebracht hatte.
    »Ich verstehe«, sagte sie sanft. »Ihre Frau starb. Das hat alles verändert.«
    »Ja.«
    Lev rauchte einen Moment schweigend, dann sagte er: »Vorher war ich ein glücklicher Mann. Verstehen Sie? Mir ging es gut, trotz allem, was in meinem Land passierte. Glücklich und stark, wie Rudi. Aber jetzt. Traurig innen. Manchmal, mit Sophie, für eine Weile okay. Lachen, küssen, alles. Dann kommt es wieder.«
    »Ich weiß. Es kommt wieder.«
    »Vielleicht für immer. Wer weiß? Ich möchte gerne wissen, Ruby. Werde ich frei davon sein?«
    »Lev«, sagte Ruby, »als ich jung war, habe ich den Leuten immer das gesagt, wovon ich glaubte, sie wollten es hören. Aber das tue ich nicht mehr. So etwas ist grausam. Deshalb kann ich Ihnen jetzt nicht sagen: Sie werden frei davon sein und es wird weitergehen, weil ich die Antwort einfach nicht kenne.«
    Es herrschte Schweigen im Zimmer.

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