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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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wieder richtig herum liegen. Und wenn doch, dann würde es nicht von Dauer sein. Für einen Moment flogst du wie eine Schwalbe. Die Welt lag ausgebreitet unter dir. Und dann war es vorbei. Sie war über dir und zermalmte dich, und all ihre Abwässer liefen dir ins ... ja, indein Herz, bis dein Herz schwarz und übervoll war wie eine Schleuse.
    Ach, ich sehne mich so nach dem Mond ...
    Er wollte noch mehr Guinness, noch mehr Woditschka . Er versuchte, dem Mann hinter dem Tresen zu sagen, er solle den Nachschub nicht abreißen lassen, aber jetzt hatte er ein Problem: Es wurde Geld von ihm verlangt. Er suchte in seinem neuen Jackett nach seinem Portemonnaie. In dieser Tasche. Jener Tasche. Der Barkeeper sah ihn an, fixierte ihn, breitschultrig und hässlich. Noch eine Tasche. Und noch eine. Kein Portemonnaie. Nichts drin in dem herrlichen Wildleder: nur ein Baumwolltaschentuch, ein Kamm für sein dichtes Haar, sein Mobiltelefon. Jetzt starrten ihn zwei Barkeeper an. Er konnte sie atmen hören. Er dachte: Alles vervielfacht sich. Sorgen. Ankläger. Kummer. Und er hob die Arme vor den Barkeepern, in der Geste eines unschuldigen Mannes, einer Geste, die sagte: »Ich habe nichts. Alles ist mir genommen worden. Tun Sie, was Sie tun müssen.«
    Sie waren jetzt mit den Gesichtern direkt vor ihm und schrien ihn an. Er konnte ihren Brandy-Atem riechen. Und er wünschte sich, er wäre weit weg, könnte hinaus in die Nachtluft, in der Dunkelheit Atem holen. Deshalb fing er mit dem Suchen von vorne an. In den Hosentaschen. In der Hemdtasche. In der Gesäßtasche.
    Da war es.
    Das Leder war abgewetzt und wellig und fleckig. Darin sein Bild von Maya. Maya, seine geliebte Tochter. Das unschuldige, unschuldige Kind. Er zog das Foto heraus, mit zitternden Händen, und legte es auf den Tresen. Und er schaute es an und sah, dass es verblasst war. Die leuchtenden Farben waren verschwunden, nur noch in Spuren sichtbar, ein wenig Grün, ein wenig bläuliches Grün am Himmel ... wenn der Abend kam ... der Himmel hinter Auror ...Jetzt blies ihn der kalte Wind über die Gehsteige. Blies alles nach Norden. Staub. Blätter. Müll. Von wem? Wen scherte das? Alles würde irgendwann nordwärts geblasen. Alles fand irgendwann seine eisige Bestimmung.
    Er wusste, dass er verloren war.
    Seine Blase drückte. Er lehnte sich an einen Baum und pisste auf den Boden, und seine Hand, die den Schwanz hielt, war eiskalt. Und er sagte sich, wenn Teile seines Körpers jetzt erfroren, war es Zeit, davonzuschleichen, irgendwo Unterschlupf zu finden, wo er unsichtbar war, und dort liegen zu bleiben, bis die Erde sich weiterdrehte und mit dem Hellwerden brachte, was sie brachte ... was immer es sein mochte, was sich als Morgen ausgab.
    Nach unten. Es war besser, nach unten, nach innen, ins Zentrum der Dinge zu kriechen, wie ein Fuchs. So leise wie ein Tier, dass niemand dich sehen oder hören konnte. Immerzu nach unten. Und hier, in dieser Stadt, diesem London, gab es früher oder später immer solch einen Ort, und dann ... ja, dann konntest du dich hinlegen, mit den Autos über dir, mit der Straße, die die Last all dessen trug, was sie zu tragen hatte, mit Treppen, die hinauf und hinunter führten ... Und das war alles, was von dir verlangt wurde ... dass du dort liegen bliebst und stillhieltst.
    Da war sie, die Treppe, nicht dieselbe wie damals, aber ähnlich, wiedergefunden, hinauf und hinunter, mit einem Eisengeländer, als bräuchten die alten Geister vielleicht einen Halt, wenn sie von einer Welt in die andere wechselten ... die Geister, um die sich keiner mehr scherte, jene Wesen, die durch die Köpfe der alternden Männer irrlichterten, wenn sie auf harten Stühlen im Holzhof saßen und dieses priesen und jenes bejammerten, von der Arbeit verbraucht und voller Verletzungen. Stefans Geister.
    Aber in Levs Augen war diese Treppe nicht gleichmäßig gebaut. Er wusste, dass er gleich fallen würde, doch er konnte sich nicht dort fallen lassen, nicht in jene rutschige Leere.
    Er legte sich hin, wo er war, auf die Straße.

15
Neun Uhr abends
    Jemand, der ihn anschrie. Ein Geruch, so widerlich, dass es die Krebsstation hätte sein können. Aber keine Erinnerung an irgendeine Station, keine Erinnerung daran, wo er war oder wieso die Dinge hier so waren, wie sie waren ...
    Lev öffnete die Augen. Hoch über ihm war ein Männergesicht. Lev wanderte mit den Augen zittrig nach unten, und er begriff, dass das Gesicht an einem schweren uniformierten Körper befestigt

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