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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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war und dieser Körper an einem schwarzen Lederstiefel. Dann schien der Stiefel zurückzuweichen, und das Gesicht kam näher und starrte ihn an.
    Als Nächstes eine Erinnerung. Rudis entsetzter Blick, als er an eine brutale nächtliche Festnahme zurückdachte: »Wenn du aufwachst und vor deinem Gesicht ein anderes hast, Lev, ist es kein Schwulentraum, sondern die verdammte Miliz.«
    Jetzt ein Arm, der ihm hochhalf. Helles Licht, das seiner Haut wehtat. Eine Stimme, sehr nah, aber nicht unfreundlich: »Gut so. Sind Sie jetzt okay? Ihnen ist schlecht geworden? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
    Lev sah an sich herunter. Er hatte die ganze Wildlederjacke vollgekotzt. Aber wieso war er hier, im grellen Tageslicht, auf dieser Straße, die er nie zuvor gesehen hatte?
    Eine Frauenstimme jetzt, schrill und besorgt. »Können Sie ihn endlich wegschaffen? Bitte schaffen Sie ihn weg.«
    »Er geht gleich, gute Frau. Er ist schon dabei.«
    Jetzt sah Lev die Frau. Sie stand auf ihrer Vordertreppe und sah ihn mit dem Ausdruck des Entsetzens an. Er wurde zu einem Polizeiwagen geführt. Zwei Polizeibeamte neben ihm.
    »Haben Sie ein Zuhause?«, fragte einer der beiden.
    Lev nickte. Quälend langsam kam alles in sein Gedächtnis zurückgekrochen: das verletzende Stück, sein Wutanfall in der Theaterbar ...
    Er begann sich selbst an den Kopf zu schlagen. »Hören Sie«, sagte der eine Polizist, »das würde ich nicht machen, wenn ich Sie wäre. Am besten gehen Sie jetzt nach Hause, verstanden? Gehen Sie, und zwar ganz ruhig, sonst müssen wir Sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festnehmen.«
    Erregung öffentlichen Ärgernisses .
    Er verstand, was das hieß.
    Er machte sich auf den Weg. Die Straße schien unter ihm wegzukippen, wie ein Boot auf unruhiger See. Er hatte keine Ahnung, wohin er ging. Welche Richtung war Norden? Er wusste, dass er nach Norden laufen musste, aber wie lange? Wo in diesem Londoner Labyrinth war die Belisha Road, sein sicherer Hafen?
    Er kam an einer Mülltonne vorbei, randvoll mit den obszönen Hinterlassenschaften irgendeines Menschen, und er dachte: Ich habe mein Leben obszön gemacht. Er stieß mit dem Fuß gegen die Tonne, hätte sie gern umfallen sehen, hätte gern gesehen, wie sich alles auf den Gehsteig ergoss, aber sie fiel nicht um. Er begann zu fluchen. Er riss den Deckel von der Tonne und schleuderte ihn auf die Straße. Hörte Schritte, die energisch auf ihn zukamen.
    Die Polizisten packten seine Arme. Er fühlte den eisigen Schmerz der zuschnappenden Handschellen. Dann Hände, die seine Taschen durchsuchten, und wieder eine Stimme, laut in seinem Ohr: »Gut. Jetzt sind Sie festgenommen. Wir haben Sie gewarnt. Wir haben Ihnen geraten, nach Hause zu gehen, ohne noch mehr Ärger zu machen, aber Sie haben nicht auf uns gehört. Deshalb sind Sie jetzt festgenommen, wegen eines Vergehens gegen Artikel 5 des Public Order Act.«
    Jetzt im Polizeiwagen. Unbekannte Straßen am noch frühen Morgen, die draußen vorbeiziehen. Ein Schmerz in seinem Schädel. Er zittert vor Angst und Kälte, erträgt seine Wildlederjacke dennoch kaum am Körper, weil er sie verdreckt hat. Nicht in der Lage, sie auszuziehen, wegen der Handschellen.
    Die Stimme des Gesetzes, die sagt, was zu sagen das Gesetz von ihr verlangt. »... in Gewahrsam genommen, um die Untersuchung dieses Vergehens einzuleiten. Sie können die Aussage verweigern ... alles, was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Verstehen Sie mich?«
    Lev schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung, welches Gesetz er gebrochen hatte. Er hatte geglaubt, er sei frei und auf dem Weg nach Hause, und auf einmal war er nicht frei, sondern in Handschellen, und wurde hinten in dieses Auto geschoben.
    Die zwei Polizisten unterhielten sich jetzt. Lev versuchte angestrengt zuzuhören, aber er konnte sie nicht verstehen, wusste nur, dass sein Schicksal in den Händen des Gesetzes lag und dass die Dinge vielleicht besser für ihn liefen, wenn er sich zerknirscht gäbe.
    »Ich entschuldige mich«, sagte er.
    Einer der Köpfe drehte sich um. Lev sah das Gesicht von Nahem, totenblass am Ende des Winters, mit alten Aknenarben.
    »Sie sprechen also Englisch?«
    »Ja.«
    »Wie viel?«
    Lev starrte hinaus auf den Verkehr und in den grauen Himmel.
    Wie viel?
    Genug, um das Stück zu verstehen. Genug, um zu wissen, dass sein Mädchen mit ihren erdbeerroten Locken nicht mehr sein Mädchen war ...
    »Ich spreche gutes Englisch«, sagte er so korrekt wie

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