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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Welt, die er hier betreten hatte, real und wahrhaftig vorkamen?
    Er stieß Sophie noch einmal an. »Du!«, sagte er. »Ich verstehe dich jetzt. Du siehst gar nichts ! Du siehst, was ›Mode‹ ist, was ›schick‹ ist. Das ist alles, was wichtig ist für dich. Weil du die Welt nicht kennst. Nur dieses kleine England. Du weißt nichts, nichts !«
    »He«, sagte Preece. »Das ist ein bisschen daneben, oder? Was ist los mit Ihnen?«
    Lev zitterte. Seine Arme fühlten sich an wie elektrisch geladene Drähte. Er spürte ihre tödliche Kraft. »Los ist, ich bin verrückt«, sagte er. »Durchgeknallt vielleicht. Aber ich bin nicht krank, wie dieses Stück. Zu Hause habe ich eine Tochter, Maya. Ich liebe diese Tochter ...«
    »Ja und?« sagte Preece. »Das ist so was von irrelevant. Wen interessiert, ob Sie eine Tochter haben? Das ist Kunst . Das ist messerscharfe Avantgarde ...«
    »Okay. Dann bin ich messerscharf!«, schrie Lev und fuhr sich mit einem Finger am Hals entlang. »Ich schneide!«
    »Hören Sie. Sie halten jetzt mal den Mund!«, sagte Preece. »Sie sind einfach nur ein Arschloch.«
    »Ach ja?«, brüllte Lev. »›Arschloch‹ wie im Stück. So lustig, nicht? Aber dieses Arschloch kann schneiden! Ich schneide den Hals von Portman. Ich schneide alle! Wollen Sie sehen?«
    Lev packte Sophie und legte ihr seinen Arm um den Hals und presste sie an sich. Ihr Glas fiel hin und zerbrach. Sie begann zu würgen und zu keuchen. Preece beugte sich aus seiner überlegenen Höhe herab und griff Lev unters Kinn. Mit seiner Riesenhand drückte er so lange zu, bis Lev dachte, ihm werde das Kinn zerquetscht. »Lass sie los«, sagte Preece. »Lass sie verdammt noch mal los, oder ich zermatsch dir dein Gesicht!«
    Lev starrte Preece an − seine weißen, glänzenden Wangen, seine hohe Stirn, sein stoppeliges Kinn, seine wulstigen Lippen, diese ganze schauerliche Mixtur −, und er dachte: Jetzt ist er mein Feind. Er hasste ihn fast so heftig, wie er damals Prokurator Rivas gehasst hatte. Er war sich der atemlos gaffenden Menschen um ihn herum bewusst, die in ihrem Entsetzen fast komisch wirkten, aber sie waren ihm völlig gleichgültig. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass seine Liebesaffäre mit Sophie zu Ende war.
    »Lass sie los!«, schrie Preece wieder. Aber Lev hatte seinen Arm schon gelöst. Er wartete, dass Preece seinen Griff lockerte, und als er es tat, machte er sich frei und ging zur Treppe und durchs Foyer und in die kalte Aprilnacht hinaus.
    Alles, was er jetzt wollte, war, nicht daran denken, nicht die Endgültigkeit dessen, was gerade geschehen war, innerlich fühlen müssen. Nichts sonst. Nichts darüber hinaus, nichts, was die Zukunft anging. Nichts von alledem. Nur das Gefühl des Nichtfühlens .
    Er war ein Fremder in diesem schicken Teil Londons. Aberer sah sich nicht in der Lage, weit zu laufen. Draußen vor dem Theater hielt er sich rechts und betrat die angrenzende Restaurant-Bar.
    Sie war brechend voll, am Eingang warteten die Menschen auf frei werdende Tische, aber Lev drängte sich an ihnen vorbei. Am Tresen angekommen, zündete er sich eine Zigarette an und bestellte Guinness, dann Wodka ... ah ... sein geliebter Woditschka ... dann noch mehr Guinness (er hatte inzwischen Geschmack daran gefunden, genau wie Christy Slane) und noch mehr Woditschka . Dann ging er zur Toilette und pisste alles aus und kehrte zurück und fing wieder mit dem Guinness an. Er setzte sich in einen glänzenden Holzsessel und horchte, wie seine Knochen die Sitzfläche polierten. Er sah zu, wie die Mondgesichter seiner Mittrinker ihn auf langsame, nachdenkliche Weise umkreisten, hörte die Speisenden hinter sich schwatzen und wiehern. Er war ein aufgestauter Fluss. Er war stumm, eine Marionette oder Puppe. Er war ein vergessenes Lied: Ach, ich sehne mich so nach dem Mond ...
    Wenn Leute ihn ansprachen, verstand er die Wörter nicht. Wenn Musik spielte, wer kannte die Melodie? Er nicht. Er wusste nichts. Sein Gehirn war so klein wie ein Körnchen Kleie. Und so schwarz, so dunkel, wie Dunkelheit überhaupt sein konnte.
    Er wusste, dass er dabei war, die Verbindung zu seiner Umgebung zu verlieren. Das war nicht sein Fehler. Es war der Fehler der Welt. Weil nichts in der Welt lange hielt. Nichts lag lange richtig herum. Immer war da etwas, irgendein leise sich anbahnendes Ereignis, wie zum Beispiel eine Theaterpremiere, die, das wusstest du ... du wusstest es, alles auf den Kopf stellen würde. Nichts würde oder könnte jemals

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