Der weite Weg nach Hause
möglich. Und er hörte etwas Eigentümliches in seiner Stimme: eine Art unangemessenen Stolz.
Er wurde in eine Polizeiwache gebracht, immer noch in seiner beschmutzten Jacke. Er sah Spritzer von Erbrochenem auf seinen Schuhen. Er versuchte, seinen schmerzenden Kopf zu beruhigen.
Er musste auf einem Plastikstuhl in einem tristen Korridor warten. Die Tür zur Toilette wurde ihm gezeigt. Neben ihm warteten noch drei Jugendliche, zwei Weiße und ein Schwarzer, sahen ihn unter den Kapuzen ihrer Vliesjacken flüchtig an und machten dabei völlig gleichgültige Gesichter, die ausdrückten: »Wir sitzen hier auf unseren eigenen Stühlen, du Wichser, und wir haben unsere eigenen Gründe dafür, dass wir hier sind, gut verschlossen unter unserer Schädeldecke, und es ist uns so was von scheißegal, was mit dir ist oder mit sonst wem.« Sie waren halb so alt wie Lev.
Lev stand auf und ging auf die Toilette und pisste, ließ dann heißes Wasser laufen und wusch seine Hände. Er drehte den Hahn mit kaltem Wasser auf, hielt sein Gesicht darunter und trank, betete, dass es Trinkwasser war und nicht verseucht.
Seine Wildlederjacke hing über dem Rand eines Beckens. Lev betrachtete sie, die ganze 170 Pfund teure Pracht. Er holte alles aus den Taschen, was, wie sich herausstellte, nichts außer einem Kamm war. Dann rollte er die stinkende Jacke zusammen und stopfte sie in den Plastikmülleimer, da er wusste, er würde sie, selbst wenn sie sich reinigen ließe, nie wieder tragen. Nie wieder.
Lev kehrte in den Korridor zurück, wo die Jugendlichen immer noch breitbeinig in den Stühlen hingen. Er drehte sich in die andere Richtung, zählte vier Feuerlöscher, die an der grauen Wand befestigt waren. Eine Digitaluhr teilte ihm mit, dass es 9.47 Uhr war. Sechs Stunden, bevor er zur Arbeit ins GK Ashe musste. Sechs Stunden, bevor er Sophie wiedersehen musste ...
Eine Tür öffnete sich, und ein blonder Wachtmeister winkte Lev zu sich. Er stand auf und wurde in einen fensterlosen Raum gebracht, der nur mit einem Tisch und zwei Stühlen ausgestattetwar und einer Heizung an der Wand, die eine dermaßen starke Hitze ausstrahlte, als wäre sie mit brennendem Schwefel gefüllt.
Der Wachtmeister klappte ein Notebook auf dem Tisch auf, und ohne Lev anzuschauen, ohne durch irgendeine Geste zu verstehen zu geben, dass ihm die Anwesenheit einer weiteren Person im Raum bewusst war, begann er, Zahlen oder Kodenummern einzutippen. Lev wartete. Er registrierte, dass der einzige andere Gegenstand auf dem Tisch, neben dem Notebook des Wachtmeisters, ein Karton mit Papiertaschentüchern war.
»Okay«, sagte der Wachtmeister und sah endlich von seinem Notebook auf. »Ich nehme an, Sie sprechen Englisch?«
»Ja.«
Lev wurde nach seinem Namen, seinem Alter, seinem Herkunftsland und seiner Adresse in Großbritannien gefragt. Während der Wachtmeister alles eintippte, betrat eine stämmige schwarze Frau in einem grünen Overall den Raum und stellte Lev eine Tasse Tee hin. Er dankte ihr. Auf der Untertasse lagen vier Stück Zucker, und Lev tat sie alle in den Tee, rührte um und begann zu trinken. Während er trank, zwinkerte die Frau, die in der offenen Tür stehen blieb, ihm mit verführerisch braunen Augen zu. Dann schloss sich die Tür.
»Tag der Einreise nach Großbritannien?«, fragte der Wachtmeister.
Lev hätte eigentlich gedacht, das Datum sei tief in sein Gedächtnis eingebrannt, aber es schien schon so lange her zu sein, dass es aus seinem Kopf verschwunden war.
»Juli letztes Jahr«, sagte er. »Ich kann nicht erinnern, welcher Tag.«
Die Hände des Wachtmeisters streichelten die kleine schwarze Tastatur. »Wovon bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt in Großbritannien?«
Lev spürte, wie der willkommene süße Tee seinen Blutkreislauf belebte.
»Ich arbeite im GK Ashe«, sagte er.
» Cheeky Ash ?«
»Das Restaurant«, sagte Lev. »GK Ashe. Sie kennen es nicht?«
Der Wachtmeister antwortete nicht und bewegte auch keinen Muskel seines Gesichts. Er überhörte die Frage und tippte einfach mit großer Sorgfalt weiter, als wäre der Computer das Lebewesen und Lev das Stück tote Technologie.
»Wie hoch ist Ihr Lohn beim Cheeky Ash?«
»Nicht Cheeky. Buchstaben: GK.«
»Ich habe nicht um Kommentare gebeten. Bitte nennen Sie mir Ihren Wochen- oder Stundenlohn.«
»Sieben Pfund die Stunde. 280 die Woche nach Steuern. Ich schicke Geld nach Hause zu meiner Familie.«
Noch mehr Getippe. Noch mehr Kommunikation mit der sauberen, gehorsamen
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