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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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einem Fluss wie dem, der hinunter nach Auror floss ...
    »Lev!«, zischte Sophie. »Verdammte Scheiße ...«
    Jetzt war er die Jacke los. Endlich. Jetzt war ihm wohler. Die Bilder des kühlen Flusses verblassten in seinem Kopf. Er schaute hoch. Was hatte er verpasst? Erneut hatte er vergessen, dass er sich im Theater befand. Sie hatten weitergespielt, ihn zurückgelassen. Aber was machte das schon? Es war ein abscheuliches Stück. Es war nicht einmal ein richtiges Theaterstück , wenn eine Riesenleinwand benötigt wurde. Eigentlich war es ein halber Film, oder nicht? Er sah wieder weg, faltete sein Jackett auf denKnien, blickte kurz zur Seite auf das Bein. Ein winziges Zittern, ein bibberndes Hopp-hopp-hopp . Dann Ruhe.
    Auf der Bühne dinierte Dicer jetzt bei Kerzenlicht mit Loyala. Sie redete schnell und sehr kompetent, spie Worte aus, die Lev noch nie gehört hatte. Er vermutete, dass das Geschäftssprache oder Jargon sein sollte oder wie immer die Leute es nannten. Ein bisschen war es so, wie wenn er Rudi zuhörte, der über seine »Treibriemen« und seine »Automatik« redete, ohne zu erklären, was darunter zu verstehen war, als hätten alle es zu wissen, ohne dass es ihnen jemals gesagt worden wäre. Nur wusste Rudi im Grunde, dass niemand sich dafür interessierte, dass seine Liebesaffäre mit dem Tschewi eine einsame Angelegenheit war, während hier deutlich wurde, dass Loyala ihr Firmensprech für verführerisch hielt. Sie glaubte, Dicer sei fasziniert. Sie pries sich Dicer an, und sie benutzte diese Dinge als ihre Waffe − ihre überlegene Kenntnis von bestimmten Daten und Prozentanteilen, ihre Auslegung und Manipulation von Begriffen.
    Lev sah Dicer an. Der Mimik des Schauspielers nach zu urteilen, versuchte er Loyala zu folgen, ihre Verführung geschehen zu lassen, und am Ende des Mahls − als stumme Kellner mit leeren Tellern kamen und gingen − hielt er, über den Tisch hinweg, ihre Hand.
    Lev schaute verstohlen auf die Uhr. Ihre winzigen Leuchtzeiger sagten ihm, dass seit Beginn des Stücks schon fast eine Stunde vergangen war. Aber wie lange dauerten Stücke eigentlich? Waren sie so lang wie Ballettaufführungen oder Konzerte? Denn das war alles, was er an Theater kannte: alte amerikanische Seifenopern im Fernsehen; eine einzige Aufführung von Giselle durch die Ballettkompanie von Glic; ein paar Besuche in Jor, wo Marinas Lieblingsvolksliedergruppe, die »Aufersteher«, häufig gastierte.
    Müde blickte Lev hoch. Das Bett erschien von Neuem. Bett und Schrank und das violette Licht. Als finge das Stück wieder von vorne an ...
    Dicer trat alleine auf. Er setzte sich aufs Bett, genau wie er es in Szene eins getan hatte. Er zog seine Kleider aus und ließ sie in einem Haufen auf dem Boden liegen und zog den kalbfleischfarbenen Morgenmantel aus Seide an.
    Das Stück fing tatsächlich wieder von vorne an. Nur ohne Deluda.
    Lev schloss die Augen. Er versuchte sich an die Worte von Marinas Lieblingslied der »Aufersteher« zu erinnern. Es handelte vom Wodkatrinken am Morgen, vom Schlafen in der Sonne, von Einsamkeit und Sehnsucht nach dem Mond: » Ach, ich sehne mich so nach dem Mond ... «
    Lev öffnete die Augen. Dicer ging gerade zum Schrank mit dem Schild »Ihrer«. Er öffnete ihn, und darin gab es Bügel, und es gab Kleider und Röcke. Er schob sie die Kleiderstange entlang, dann zog er darunter ein aufblasbares Puppenkind hervor, es hatte das Gesicht seiner Tochter Bunny. Er nahm die aufblasbare Bunny in den Arm. Er bog ihre Beine auseinander und legte sie sich um seine Beine. Er zog Bunny an sich und steckte seine Zunge in ihren offenen Mund. Dann entblößte er, im Angesicht des Publikums, seinen Arsch und tat, als fickte er sie.
    Der Vorhang fiel. Im Saal ging das Licht an.
    Lev saß sehr still. Das Klatschen um ihn herum war laut und begeistert. Es schien so, als sei das Stück jetzt vielleicht zu Ende. Aber natürlich war es nicht zu Ende. Dies war nur die Pause. Lev sann über das Wort »Pause« nach und dachte: Hat irgendwer begriffen, dass eine »Pause« unter bestimmten Umständen dauerhaft wurde und dass sich zu dem, was sie vorläufig beendete, nicht zurückkehren ließ?
    Neben ihm erhob Sophie sich. Sie berührte Lev am Arm. »Bar«, sagte sie. »Howie hat Champagner bestellt. Los, komm.«
    Gehorsam stand Lev auf. Sein Körper tat ihm weh. Er zog sein Jackett an, das so schrecklich neu war, dass das Wildleder noch Teil der Färse zu sein schien, die auf einer jungfräulichen Wiese

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