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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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auf das Steigen des Flusses. Dorfbewohner sammelten sich um sie. »Komm da weg, Ina. Komm weg, meine Liebe, bevor es zu spät ist«, flehten sie. Aber Ina weigerte sich. In anderen Träumen belud sie sich mit ihrem Schmuck − den Kopf gesenkt unter dem Gewicht des rostigen Blechs, das um ihren Hals hing, die mageren Füße behindert durch Fußketten in Form gehämmerter Blättergirlanden − und ging in den Stausee. Lev stand hilflos am Ufer, unfähig, laut zu rufen, sah, wie Ina einen Moment lang an der schimmernden Wasseroberfläche trieb und die Blechplättchen in der Sonne glitzerten, bis sie geräuschlos verschwand. Dort, wo ihr Körper gewesen war, breiteten sich fächerförmig Wellen aus.
    Er arbeitete weiter. Die heiteren Maimorgen besaßen etwas, das ihn immer wieder antrieb. In den seltenen optimistischenMomenten sagte er sich, bald werde es zu ihm kommen, das, was er austüfteln, der Plan, den er aushecken musste, um die Zukunft für sich und seine Familie zu sichern. Unterdessen versuchte er, Geld zu sparen. Hielt sein Handy so oft wie möglich ausgeschaltet. Kaufte weniger Zigaretten, verzichtete auf Pepsi, suchte nach den billigsten Angeboten im Supermarkt − Bohnen und Ravioli, Ravioli und Bohnen −, lebte davon und von Wasser und altem Brot und Midges Gratiskartoffeln.
    Während er so erbärmlich knauserte, überlegte er, ob er lieber alles sein lassen − das ganze mühselige Unterfangen sein lassen − und zurück nach Auror gehen sollte. Manchmal machte er sich im Geiste dorthin auf, organisierte Proteste gegen das Zentrale Planungsbüro in Jor, malte sich aus, wie er Schilder und Spruchbänder beschrieb und durch den Regen marschierte. Doch gleichzeitig wusste er, dass das sinnlos war. Er kannte die Methoden des Zentralen Planungsbüros. Die Bewohner von Auror waren zu wenige, um Gewicht zu haben.
    Maya hatte ins Handy geflüstert: »Ich hab Angst, Papa. Wann kommst du wieder? Wann? «
    Lev musste ihr sagen: »Noch nicht, mein Engel. Sei brav. Üb schön weiter mit den Schlittschuhen. Ich habe nämlich gehört, dass du schon richtig gut läufst. Ich möchte ein paar wunderschöne Drehkreisel sehen ...«
    Aber sie sagte, immer noch flüsternd: »Ich kann nicht mehr Schlittschuh fahren, Papa.«
    »Warum nicht?«
    »Weil der Bus zur falschen Zeit kommt.«
    »Bringt Rudi dich denn nicht mit dem Auto?«
    »Das Auto ist krank.«
    Er konnte sie kaum verstehen, ihr leises kleines Gemurmel. »Was, Maya? Was hast du gesagt?«
    »Der Tschewi. Der kann mich nicht nach Baryn bringen. Er kann sich nicht bewegen.«
    Also begann ihn auch das zu quälen − dass Maya etwas missenmusste, das ihr so viel Freude bereitete, und dass seine tröstlichen Bilder von ihrem anmutigen kleinen Körper, der übers Eis segelte und hüpfte, nicht mehr stimmten und zu entsorgen waren. Als er das nächste Mal mit Rudi sprach, hörte er sich säuerlich fragen: »Stimmt es, dass du mit dem Auto nicht mal mehr bis Baryn kommst?«
    »Ja, das stimmt«, sagte Rudi müde und zögerlich. »Der Tschewi ist kaputt .«
    »Was denn? Das Kühlsystem?«
    »Auch noch anderes. Reifen sind abgefahren. Keilriemen ist gerissen. Er ist ein Schrotthaufen.«
    Lev wusste, was das bedeutete: kein Taxigeschäft, kein Geld. »Kannst du ihn nicht reparieren lassen?«
    »Nein. Ich krieg die Teile nicht, und neue Reifen kann ich mir nicht leisten. Es ist vorbei, mein Freund. Alles ist vorbei.«
    Darauf lief es also hinaus. Dagegen hatte er also zu kämpfen: nicht nur gegen die Krankheit der Schuld, sondern auch gegen das Aufziehen einer endgültigen Katastrophe. Weil in Auror niemand mehr kämpfte − nicht einmal Rudi. Er, Lev, musste die Fackel des Kampfs hochhalten, er ganz allein.
    Doch das war hart. Und er wusste nicht so recht, wie er das anstellen sollte. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Während er dem Anhänger durch die grauen Furchen folgte, fragte er sich, ob es falsch war, hier bei Midge zu bleiben, wo er zwar nur wenig zum Leben brauchte, aber auch nur wenig verdiente. Sollte er zurück nach London eilen und jede Arbeit annehmen, die er kriegen konnte? Sollte er sich um ein Darlehen bemühen, damit er Ina und Maya nach England holen konnte? Aber wo sollten sie wohnen, wenn sie hier wären? Wie sollte er sie versorgen? Sollte er versuchen, sich in die komplexen Finessen des Sozialsystems einzuarbeiten? Wer würde ihm helfen? Und selbst wenn er sie versorgen könnte, wie würde Ina es in London aushalten ohne ein einziges Wort Englisch? So

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