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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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drehte sich alles im Kreis, fing immer wieder dort an, wo es aufgehört hatte ...
    »Rev«, sagte Sonny Ming traurig, »das Mistscheiß für dich. Wir wissen. Von Chinaseite, viele Dämme. Viele, viele Dorf weg. Verdammt Mistscheiß.«
    »Ja. Wir kennen Regierungsamt. Arme Menschen wegwischen.«
    »Ja. Das machen sie, wischen uns weg.«
    »Jetzt was machst du, Rev?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber was machst du, Rev?«
    »Ich weiß es wirklich nicht. Ich versuche es herauszufinden.«
    Sie waren lieb zu ihm, als wäre er jetzt der dritte Bruder. Sie versuchten, ihm Mah-Jongg beizubringen. Während des Spiels streichelten sie manchmal seine Hände. Draußen auf den Spargelfeldern wurden sie langsamer, wenn er nicht mithalten konnte, doch er wollte mithalten − es zumindest versuchen −, denn nur das half ihm durch die Tage. Er betete für schönes Wetter, damit die Tage lang waren und die Bezahlung hoch; für zusätzliches Geld bot er Überstunden im Kühlraum an.
    Midge Midgham wusste um seine Not. Kam eines Abends mit einem nagelneuen Matratzenbezug vorbei, den er im Asda-Discount gekauft hatte. Sagte zu Lev: »Schläft sich wahrscheinlich schlecht, wenn man über das gottverdammte Staudammding grübelt. Zieh den hier über das Bett, Mann, vielleicht werden die Nächte dann besser.«
    Die Herzlichkeit dieser Menschen rührte ihn, Menschen, die er kaum kannte und die so etwas wie Auror nie gesehen hatten. Nur Vitas war grimmig. »Ich hab es dir doch erklärt«, sagte er mürrisch, »ich hab dir das mit dem Damm in Auror doch schon damals im Winter erzählt, und du hast mir nicht geglaubt. Genau wie du mir immer noch nicht glaubst, das GK Ashe ein Arschloch ist.«
    Sein oder Nichtsein ...
    Diese berühmte Stelle las Lev in einer Nacht mit plötzlich einsetzendem Regen, als er weich auf dem neuen Matratzenbezug lag und die Mings in ihrem unruhigen Schlaf seufzten und wimmerten. Er las weiter:
    Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage:
    Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern
    Des wütenden Geschicks erdulden oder,
    Sich waffnend gegen einen See von Plagen,
    Durch Widerstand sie enden? ...
    Lev streckte sich aus und legte das Buch neben sich. Selbst er mit seinem immer noch recht lückenhaften Englisch bewunderte, mit welch sparsamen Mitteln diese Frage formuliert war. Und er überlegte, ob das Leben vielleicht weniger kompliziert wäre, wenn die Sprache immer so schlicht und klangvoll und unzweideutig sein könnte wie hier.
    Sein oder Nichtsein.
    Er sagte es wieder und wieder. Versuchte, es in seine Sprache zu übersetzen. Schlief bei dem Versuch ein, erinnerte sich im Traum, wie er sich nach Marinas Tod das Nichtsein gewünscht hatte. Wachte aber am folgenden Morgen mit den ersten Sonnenstrahlen und ohne jeden Wunsch zu sterben auf. Obwohl er in einem »See von Plagen« steckte, würde er, »sich waffnend«, Mittel und Wege finden. Irgendwie würde er es schaffen.
    Sein Handy klingelte, und es war Lydia, die, sehr spät, aus Paris anrief. Sie dankte ihm für den Scheck über fünfzig Pfund, den er ihr doch noch geschickt hatte, sagte dann: »Ich habe gerade das mit dem Staudamm bei Auror gehört, Lev, Pjotr und ich sind völlig schockiert. Ich habe ihm gesagt, ich müsse Sie anrufen.«
    »Das ist nett von Ihnen ...«
    Ihre Stimme klang weich und herzlich; keine Spur von Ärger oder Zorn. »Ich rufe von dem Apparat in unserem privaten Salon im Hôtel Crillon aus an«, verkündete sie fröhlich. »Pjotr schläft nebenan. Er ist sehr müde nach dem Konzert heute Abend. Sibelius: außerordentlich anspruchsvoll. Eine so komplexe Partitur.«
    »Ja? Komplexer als Elgar?«
    »Ich glaube schon. Aber wir sollten lieber nicht über Elgar reden, Lev. Wir wollen über Baryn reden. Darf ich Ihnen aber, bevor wir damit anfangen, unser Badezimmer beschreiben?«
    »Ja, beschreiben Sie mir Ihr Badezimmer, Lydia.«
    Sie erzählte Lev, das Bad habe zwei Waschbecken und einen Marmorboden. Die Duschkabine und die Wand der enormen Badewanne seien ebenfalls mit Marmor gefliest. Der Raum werde mit 13 Punktstrahlern beleuchtet, und die Wasserhähne seien golden. Was ihr am meisten gefalle, seien die Bademäntel, dicke weiße Wattebäusche, hingehängt zum ganz persönlichen Gebrauch.
    Lev starrte auf die marode Ausstattung des Wohnwagens, den verdreckten Zweiflammenkocher, die schiefen Regale, das Waschbecken, das mit schmutzigem Geschirr vollgestellt war und nach Dosenbohnen stank. Aber er schlug einen heiteren Ton an und sagte:

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