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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Hab einen von ihren Zetteln abgerissen und im Scheinwerferlicht gelesen.«
    »Und was stand da drauf?«
    »Hab ihn hier vor mir liegen. Du glaubst ja nicht, was die für eine Sprache benutzen, Lev. Mistkerle! Ich wär fast explodiert. Hab einen dieser Geister bei seinem amtlichen Kragen gepackt und gesagt: ›Was soll das hier? Was zum Teufel soll das? Was, verdammte Scheiße, soll dieser verdammte Zettel ?‹«
    Lev wartete. Er konnte Rudi atmen hören, bedrückt, gepresst, wie ein Asthmatiker. Sah ihn vor sich, wie er am Tisch im Flur lehnte, das Haar zerzaust, in seinen alten karierten Morgenmantel gehüllt.
    »Entschuldige, Lev«, schnaufte er. »Aber diese Sache setzt mir so zu, dass ich kaum Luft kriege ...«
    »Okay. Lass dir Zeit. Ist Lora da?«
    »Sie ist in der Küche und macht Tee. Wahrscheinlich bleiben wir die ganze Nacht auf, denn wie soll man da jemals wiederschlafen können? Wenn Marina noch lebte, hätten wir es vorher gewusst. Wir hätten uns irgendwie darauf vorbereiten können. Aber vielleicht hätte das auch nichts geändert. Weiß der Himmel. Das Ding ist nicht von Rivas unterschrieben. Es kommt aus dem Zentralen Planungsbüro in Jor. Aber Lora und ich, wir sagen dauernd: ›Wenn doch bloß Marina noch lebte ...‹«
    »Klar.«
    »Ich weiß, dass ich das nicht zu dir sagen sollte. Hilft auch kein verdammtes bisschen weiter. Aber das denke ich eben dauernd − dass sie uns vor einer Menge schlimmer Sachen beschützt hat, weil sie kapiert hat, wie Bürokratie funktioniert und wie man sie bekämpft. Und jetzt ist niemand da, der sie bekämpft.«
    »Ich weiß, Rudi. Ich weiß ...«
    »Okay, entschuldige, Lev. Ich weiß auch nicht, warum ich immerzu wegen Marina jammern muss. Jetzt lese ich dir das Scheißding vor.«
    Lev wartete. Er setzte sich ins kalte Gras. Der Wind blähte seine Hosenbeine albern auf.
    »Los geht’s«, sagte Rudi. » Die Bevölkerung des Distrikts Auror ... wird hiermit in Kenntnis gesetzt ... dass das Zentrale Planungsbüro ( ZPB ) ... dem Baryner Staudammprojekt den Top-Status als Projekt von Herausragendem Öffentlichen Nutzen ( PHÖN ) verliehen hat. Entsprechend bietet das ZPB vor Ende des Kalenderjahres der Bevölkerung des Distrikts Auror Verpflichtende Kaufanträge ( VKA ) für sämtliches Eigentum, sowohl privates als auch gewerbliches, auf dass wir stolz − stolz! − mit den Arbeiten an diesem PHÖN beginnen können. Alle im Distrikt Auror ansässigen Bewohner ... werden auf Staatskosten in Wohnungen umgesiedelt, die derzeit in der Baryner Peripheriezone 93 gebaut werden ...«
    Kurzes Schweigen in Rudis Flur. Dann ein neues Geräusch: ein aufsteigender Schluchzer aus Rudis gepresster Brust, dann ein langgezogener Klagelaut, dann der Zusammenbruch und stürmisches Heulen.
    Lev schwieg. Ihm war schwindelig, übel. Nur ein einzigesMal in seinem Leben hatte er Rudi weinen gehört: als sie Marinas Asche verstreuten. Lev hätte sich gern an irgendetwas festgehalten, sah nur die schwankenden Pfosten der Wäscheleine, zu weit entfernt für ihn. Steckte den Kopf zwischen die Knie, sein Handy immer noch am Ohr. Hörte, wie Lora Rudi zu trösten versuchte, war froh, dass sie da war, denn was sollte er sagen, aus so großer Ferne, was konnte man überhaupt sagen, wenn ihr Dorf Auror demnächst im Wasser verschwinden würde. Und jetzt sah er ihn: diesen Damm, zehn Millionen Tonnen Beton, der wie eine Flutwelle zwischen den südlichen Hügeln wuchs.
    Rudi weinte weiter. Lev kämpfte gegen seine Übelkeit. Er hörte Lora hilflos immer wieder Rudis Namen sagen: »Rudi, Rudi ... bitte, komm schon, Rudi ...«
    Der Wind wehte weiter über Suffolk.

18
Fast wie ein Geruch
    Das Gefühl, dass er verantwortlich war, weil er sein Dorf im Stich gelassen und so dessen Schicksal besiegelt hatte, setzte sich in Lev fest wie eine Erkältung. Er wusste, dass es irrational war, aber es wütete weiter in ihm, als klebriges Fieber der Schuld. Als wäre er es gewesen, der den Beschluss zum Staudammbau gefasst hatte. Als hätte er Rudis Tränen verschuldet.
    Das Fieber stieg noch, nachdem er mit seiner Mutter gesprochen hatte. Am Telefon sagte Ina zu ihm: »Ich gehe nicht weg von Auror. Nicht um alles in der Welt. Niemand wird mich in einen Stall in Baryn verfrachten. Ihr werdet mich ertränken müssen.«
    Und so schwitzte Lev sich durch die Albträume nicht nur von Auror, das unter Wasser verschwand, sondern auch vom Tod seiner Mutter. Manchmal lag sie einfach nur mitten auf der Straße und wartete

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