Der weite Weg nach Hause
Rudi Geld.«
»Ich werde meine Schulden begleichen, Lydia.«
»Sicher, aber nicht jetzt. Seien Sie nicht albern. Pjotr schenkt mir so viel, Sie können es sich nicht vorstellen. Heute hat er mir zum Mittagessen Austern bestellt und danach eine Seezunge. Dann für fast 300 Euro die schönste Seidenbluse von Hermès gekauft ...«
Sie konnte ihn nicht verhehlen, den Stolz in ihrer Stimme: den Stolz darauf, dass Liebe − die Liebe zu einer Frau, die einst als »Müsli« verspottet worden war − sich in edelsten Luxusartikeln aufwiegen ließ.
Lev lächelte und sagte: »Erzählen Sie mir mehr von Ihrem neuen Leben, Lydia. Sind Sie glücklich mit Ihrem Maestro?«
»Ach, wissen Sie, Lev, mein Leben ist wirklich unglaublich.«
»Das war eigentlich nicht meine Frage.«
»Nein.«
Lydia schwieg einen Moment. Dann sagte sie flüsternd: »Im Augenblick hat Pjotr schlimme Verdauungsstörungen. Der Konzertstress macht das Leben für ihn ziemlich schwierig. Ich könnte Sibelius umbringen − wenn er nicht schon tot wäre. Aber ich tue mein Bestes, um meinen lieben Maestro zu trösten. So, und jetzt möchte ich Ihnen erzählen, was er über Baryn gesagt hat ...«
»Sagen Sie mir, dass Sie glücklich sind. Das würde ich wirklich gern wissen.«
»Ja. Ich bin glücklich, Lev. Also, Pjotr ist ein kluger Mann,und er hat begriffen, wie die Zukunft für eine Stadt wie Baryn aussehen könnte.«
»Schlafen Sie miteinander?«
»Nun, mein Lieber, das geht Sie wirklich nichts an.«
»Nein. Das stimmt.«
»Aber, doch, das tun wir. Wenn er keine Darmbeschwerden hat, kann er sehr leidenschaftlich sein. Sind Sie jetzt zufrieden?«
Lev lag, auf seine Ellbogen gestützt, im Bett und rauchte. Draußen in der Dunkelheit tschilpte ein einsamer Nachtvogel. »Okay«, sagte er. »Erzählen Sie mir, was Pjotr über Baryn sagt.«
»Nun, das ist etwas sehr Erfreuliches, Lev. Werden Sie mir zuhören, wenn ich Ihnen etwas Erfreuliches berichte?«
»Ja.«
»Schön. Also, Pjotr glaubt, wenn der Damm erst einmal gebaut ist, wird er Baryn zu einer blühenden Stadt machen. Man bringe Strom an einen Ort wie diesen, verlässlichen Strom, und alles Mögliche andere wird folgen. Neue Unternehmen entstehen. Neue Häuser werden gebaut. Parks. Öffentliche Einrichtungen. Schicke Cafés und Geschäfte.«
»Ich kann mir in Baryn nur schwer eine Menge schicker Cafés und Geschäfte vorstellen.«
»Ich weiß. Es ist immer noch sehr rückständig. Aber das wird sich ändern. Wieso sollten sie den Damm bauen, wenn sie nicht dächten, dass er für Veränderung sorgt? Pjotr weist darauf hin, dass die Voraussetzungen gut sind: schöne landschaftliche Umgebung − zumindest nach Süden hin, wo nicht alle Bäume abgeholzt wurden −, kalte Winter, aber ziemlich lange Sommer. Vielleicht legen sie ja am neuen Staubecken einen Lido an. Keine Ahnung. Im Laufe der Zeit könnte dort alles Mögliche entstehen. Vielleicht ein Fußballstadion. Eine neue Eisbahn mit Zuschauertribüne.«
»Eine neue Eisbahn?«
»Ja. Sicher. Wieso nicht?«
Lev schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Hoffentlich machen sie das. Maya läuft so gern Schlittschuh. Nicht mehr lange, und sie kann den Toeloop.«
Früh am nächsten Morgen fuhr Lev mit Midge einen schmalen Weg entlang. Der Traktor zog einen hölzernen Anhänger, in dem sie Strohballen für das Sommerobst verladen wollten. Zwischen ihnen saß der Hund Whisky mit kalter Nase und wedelndem Schwanz und verströmte Hundegeruch. Rechts und links säumten Pappeln den Weg, ihre Blätter schimmerten silbern in der Sonne. Und fast hätte Midge den Traktor aus der Spur gebracht, so gebannt waren seine Schweinsäuglein von dem Anblick.
»Das entschädigt doch für den Winter«, sagte er. »Was, Lev? Macht all die dunklen Tage wett! Dies zu sehen.«
Lev sah es: weiße Stickerei auf einem Hauch von Maiengrün. Er ließ seinen Blick darüber schweifen, sah die Zartheit und die Beständigkeit, und das war der Augenblick, als ihm die große Idee kam.
Die Idee war wunderschön.
Für einen Moment nahm sie ihm den Atem. Sie kam ihm wie etwas Unwiderstehliches vor, das ihn rief. Sie erschien ihm ebenso einleuchtend, ebenso elegant wie ein mathematischer Satz, der über jeden Zweifel erhaben ist.
Fast wäre er vor Midge damit herausgeplatzt, begriff dann aber, nein, sie musste im Stillen wachsen, wie das zarte Gespinst einer Hecke. Er musste sie für sich behalten, das schwor er sich. Vor langer Zeit, als er ein kleiner Junge gewesen war, hatten
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