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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Geheimnisse ihm ein Gefühl von Macht geschenkt. Und dieses Machtgefühl war dann am intensivsten, wenn er selbst Rudi das Geheimnis nicht verriet.
    Die Idee verlangte dreierlei: Informationen, Geld und festen Willen.
    Als Lev darüber nachsann, wie er an diese drei Dinge kommenkönnte, begann sein Herz wie wild zu klopfen. Ihm schwirrte der Kopf von all den kühnen Aufgaben und Hoffnungen. Schon an diesem frühen Maimorgen, als Lev mit Midge die Strohballen auflud, fing er im Kopf mit den Listen an. Der Hund umtanzte ihn, bellte so wild, als könnte er eine Welt riechen, die plötzlich neu war.
    »Was ist mit Whisky los?«, sagte Midge. »Hast du Schokotaler in der Tasche?«
    Lev kaufte ein liniertes Heft und fing an, sich Notizen zu machen. Seine Instruktionen an sich selbst strömten in so rascher Folge, dass sie später fast unleserlich waren. Nachts lag er auf seinem Bett und träumte so lange, bis alles real vor ihm stand. Er sah es genau vor sich, und er wollte es, wollte es unbedingt. Er kam sich vor wie ein Jugendlicher, der von etwas besessen ist. Die suggestive Macht seiner Idee war so stark, dass sie fast einen Geruch hatte. Und wie alle Obsessionen erschöpfte sie ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Nach fünf oder sechs schlaflosen Tagen und Nächten begann er sich nach einer Pause zu sehnen.
    Am Abend seines 43. Geburtstags schlenderte er mit Vitas, Jacek und den Mings durch die Dämmerung zum Longmire Arms. Er beschloss, mit seinem sorgsam gesparten Geld leichtsinnig zu sein, kaufte Bier und Wodka für alle und hoffte, die Getränke würden seinen heißlaufenden Verstand beruhigen.
    Die Mings, stets hellhörig für seine Stimmungen, standen dicht bei ihm, beobachteten prüfend seine Mimik und schienen sich über seine neue Euphorie zu wundern.
    »Rev. Du okay?«
    »Rev. Du bisschen vellückt?«
    »Ja, wahrscheinlich. Ich habe heute Geburtstag. Ich bin ein bisschen verrückt.« Doch am liebsten hätte er gesagt: Nein, eigentlich nicht verrückt, sondern hin und weg . Hin und weg vom Geheimnis , hin und weg von der Idee .
    Er legte ihnen die Arme um die Schultern. Hätte sie gern gebeten: Helft mir, irgendwo anders hinzugehen, helft mir, ihr zwei und der Woditschka , ein paar Minuten Ruhe zu finden ...
    Sie tranken und tranken. Spielten Billard. Zerrissen die grüne Bespannung mit ein paar exotischen Stößen. Wurden vom Wirt angebrüllt: »Scheißimmigrantenidioten!« Lachten gemeinsam das ansteckende Ming-Lachen. Ha-ha-ha-ha! Ha-ha-ha-ha-ha-ha! Standen eng aneinandergedrängt und wiegten sich zu irgendeiner wilden Melodie. Vitas und Jacek zogen ab, aber Lev und die Mings blieben, schwankten zum Bier, schwankten zum Wodka, mampften Chips und Erdnüsse, lachten, bis sie Seitenstechen bekamen. Lachten über Dickbauch, über den beschissenen Wohnwagen, über gelbe Öljacken, über Nobelfräuleins, darüber, was Bohnen mit der Luft in den Eingeweiden anrichteten, über die Katastrophe und die Lust, am Leben zu sein. Das Geld vertröpfelte ... tröpfelte und versickerte und war weg ...
    »Geld weg, Rev?«
    »Ja.«
    »Mistscheiß. Was machen jetzt?«
    Ha-ha-ha-ha! Ha-ha-ha-ha-ha-ha!
    Sie stolperten die paar Hundert Meter unter einem hellen Mond nach Hause, hörten einen Fuchs bellen. Lev wurde halb von den Mings getragen, einer an jeder Seite, seine Brüder, seine lieben Beschützer.
    Sie legten ihn in ihr Bett. Es roch nach ihren Körpern.
    »Rev«, sagten sie. »Wir sorgen dich? Du möchtest?«
    »Was?«
    »Wir denken, du möchtest. Du ein einsamer Mann. Sorgen dich jetzt.«
    Weiche Hände entkleideten ihn. Kühle Luft an seinem nackten Körper. Zwei Gesichter mit freundlichem Lächeln, die zu ihm herunterschauten. Dann, an seinem Schwanz, vorsichtige, zarte Finger, glitschig von Duftöl, weich und ohne Eile, wiedie eines Mädchens. Perlendes Lachen, weniger laut, weniger wild, wie ein Stein, der über Wasser hüpft ...
    Er dachte: Das ist es also, was ich in den Nächten höre, das ist der Grund für dieses Seufzen und Weinen, den unruhigen Schlaf. Aber stets sanft, wie jetzt ... fast, als würde es gar nicht geschehen ... stumm wie ein Kuss ...
    Tränen auf seinem Gesicht. Seine oder ihre? Dankbarkeit? Oder Kummer, weil er ablehnen würde, was sie anboten?
    Er langte nach unten, wollte die Hand wegschieben, aber die sehnsüchtige Hoffnung, dass seine Unruhe gestillt würde, hielt ihn zurück.
    »Rev. Wir sorgen dich. Du möchtest nicht?«
    »Rev. Du möchtest nicht jetzt bisschen Tongzhi?«
    Die

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