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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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zart.«
    Lev lehnte sich gegen den Container. Angst um Ina hatte ihm seit jeher Kummer bereitet, sogar schon als Kind, als er merkte, dass seine Mutter ihm − auf eine Weise, die er nicht genau beschreiben konnte − irgendwie geisterhaft vorkam, als wäre sie beim Rennen durchs Leben eine Teilnehmerin, die niemand bemerkte und die als Letzte ankam, immer als Letzte und die Augen voller Furcht. Lev wünschte sich häufig, es wäre nicht so, aber es war so. Und seit Jahren verbrachte Ina nun ihre Tage mit der Herstellung von Schmuck für andere Frauen, Frauen, um die man sich keine besonderen Sorgen machen musste, Frauen mit selbstbewusstem Lächeln und modischen Stiefeln, Frauen, die rauchten und lachten und der Welt die Stirn boten. Ina hatte der Welt nie die Stirn geboten. Sie hauste im Verborgenen, in einer Holzhütte mit einer Paraffinlampe, die wie ein lebendes, atmendes Ding wisperte, und auf ihrer Werkbank lagen Metallraspel und Kupferdrahtenden, und ihre Hände trugen überall Narben von Bunsenbrenner und Lötkolben, und mit der Zeit wurden ihre Augen schwach. Lev wusste, dass niemandan den Tag denken mochte, an dem sie ihr Augenlicht vollkommen verlieren würde.
    »Aber sie wird Prinzessin Diana sehen«, sagte Lev jetzt zu sich selbst. Er stellte sich vor, wie Ina die Karte hinten auf ihrer Werkbank aufstellte und das weiße Paraffinlampenlicht die rosige Haut und das zögerliche Lächeln beschien, wie sie sich dann in ihrem Stuhl zurücklehnte, um dieses nun nicht mehr existierende Gesicht und die faszinierende Feinheit des diamantenbesetzten Diadems zu betrachten. Und Maya würde manchmal zur Hütte kommen und Diana ebenfalls anschauen. Und hin und wieder − nicht oft − würden die zwei die Karte umdrehen und noch einmal die Worte lesen, die er geschrieben hatte: Heute suche ich mir eine Arbeit.
    Lev hob die Tasche auf und hörte die Flaschen klirren. Er verfluchte sich für seine Tagträumerei. In der Mittagspause auf dem Baryner Holzhof mochten Tagträume angehen, aber in Städten wie Glic oder Jor, ganz zu schweigen von London, konnte man nicht tagträumen. »Städte sind ein verdammter Zirkus«, hatte Rudi einmal verkündet, »und Menschen wie du und ich sind die Tanzbären. Also tanz weiter, Kamerad, tanz weiter, oder du bekommst die Peitsche zu spüren.«
    Die Hitze nahm wieder zu. Man konnte fühlen, wie sie aus dem schmutzigen Asphalt aufstieg, sehen, wie sie über den Autos flirrte. Lev war stolz, dass er so zäh war − ein zäher, schmalgliedriger Mann −, aber jetzt merkte er, wie er zu straucheln begann. Schweiß rann ihm über die Stirn. Die Menschen auf der Straße kamen ihm plötzlich grotesk vor, fett und spöttisch und krank. Irgendwie hatte er sich naiverweise vorgestellt, die meisten Engländer sähen aus wie Alec Guinness in Die Brücke am Kwai , dünn und skeptisch, mit verschreckten Augen; oder wie Margaret Thatcher, zielstrebig und in Eile, wie ein blauer Witwenvogel. Aber hier wirkten sie jetzt träge und hässlich, und ihre Köpfe waren rasiert, oder ihr Haar war gefärbt, und viele nuckelten wie ängstliche Babys beim Gehen an Coladosen, undLev dachte, ihnen sei etwas Katastrophales widerfahren − etwas, das niemand erwähnte, das sich aber in ihren Gesichtern und in der schwerfälligen, schlurfenden Art ihrer Bewegungen verriet.
    Lev betrat ein kühles, hell erleuchtetes Lokal namens Ahmed ’s Kebabs . Ein Araber putzte den gefliesten Boden mit einem Scheuermittel. Hinter dem Tresen drehte sich ein grauer Fleischkegel an einem senkrechten Grill. Eine Kühltheke war mit zerpflücktem Salat, klein geschnittenen Tomaten und verschiedenen Brotsorten bestückt. In einem großen Kühlschrank mit Glastür standen Dosen mit Erfrischungsgetränken.
    Lev setzte seine Tasche ab, und der Araber wandte sich um und schaute ihn an, während er seinen Wischmopp ausdrückte.
    »Entschuldigung«, sagte Lev. »Haben Sie etwas für mich?«
    Der Araber nahm Eimer und Mopp und trug beides hinter die Theke. Dann drehte er sich um und sah Lev prüfend an. Seine Augen blickten bekümmert und wild, und sein Haar war glänzend und zerzaust wie Rudis.
    »Setz dich«, sagte er.
    Vor der Theke waren drei Hocker aus Chrom und Plastik aufgereiht, also hievte Lev sich auf einen und legte die Arme auf die kühle Thekenfläche. Der Araber stellt einen Pappteller vor ihn hin. Er nahm eine weiche Brottasche aus dem Kühlregal und füllte sie mit etwas von dem zerpflückten Salat. Dann ging er zu dem

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