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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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sei das Einzige, was seinem Leben einen Sinn gebe. Und nach diesem Geständnis war ihm plötzlich ganz leicht und froh zumute, denn er hatte die Wahrheit gesagt.
    Eva begann zu weinen. Lev beobachtete, wie sie aufstand, ihren Morgenmantel anzog und sich ans Fenster stellte. Ihr Körper sah ihm Mondlicht ganz geisterhaft aus, und Lev dachte: Ja, das ist ein Teil des Problems. Mit ihr zu schlafen ist wie mit einem Geist zu schlafen.
    Aber da war noch etwas anderes. Nachdem er Marina verloren und bevor er Eva gefunden hatte, gab es noch Sophie. Was geschehen war, war geschehen. Sophie hatte ihn geheilt und ihn dann wieder verwundet. Und die Wahrheit lautete, dass Sophie in Levs Kopf und in seinen Träumen noch immer existierte, noch immer lachte, kreischte, ihn mit den Fäusten bearbeitete. Er konnte immer noch ihren Mund auf seinem schmecken, fühlen, wie ihr Schädel sich an seinen presste, Knochen an Knochen.
    »Es tut mir leid, Eva«, sagte er. »Es tut mir leid ...«
    »Und?«, sagte sie. »Was soll ich jetzt tun? Etwa aus Baryn weggehen?«
    »Du musst tun, was du möchtest«, sagte Lev. »Du musst tun, was du für richtig hältst.«
    Eva ging nicht fort. Sie sagte zu Rudi, sie glaube, Lev trauere immer noch um Marina, werde sie aber mit der Zeit lieben lernen.
    »Aber hat sie auch recht?«, fragte Rudi ihn eines Morgens, als sie in die Podrorskystraße kamen, um dabei zu sein, wenn das Restaurantschild angebracht wurde.
    »Nein«, sagte Lev.
    »Trotzdem ist es nicht vorbei, mein Freund. Ich weiß nämlich,dass du noch so manche Nacht in ihrem Bett verbringst.«
    »Ja«, sagte Lev. »Stimmt. Aber das muss ein Ende haben. Ich gehe da nicht mehr hin.«
    »Aber weißt du noch, wie wir sie kennengelernt haben?«, sagte Rudi. »An dem Abend im alten Café Boris. Weißt du noch?«
    »Ich bestehe doch nur noch aus Erinnerungen, Rudi«, sagte Lev. »Ich will mich an keine einzige weitere Sache erinnern müssen.«
    Jetzt sahen sie zum Schild hoch: Marina . Silberne Buchstaben auf dunkelblauem Grund. Zwei Arbeiter schraubten es an die Wand.
    »Sieht hübsch aus«, sagte Rudi.
    Lev starrte das Schild an. Und er dachte, wie dem geisterhaften Namen Marina jetzt Tag für Tag, Jahr für Jahr durch diese Stadt Leben eingehaucht werden sollte, und fand diese melancholische Vorstellung unerträglich.
    »Nehmen Sie es runter«, wies er die Arbeiter an. »Ich habe meine Meinung geändert.«
    Rudi schleppte ihn in die neue italienische Kaffeebar am Platz, wo die Menschen in diesem milden Herbst noch draußen auf Metallstühlen saßen und Latte macchiato und Cappuccino tranken. Als Lev dort saß, fiel es ihm nicht schwer, sich noch in London zu wähnen.
    »Also, was ist jetzt?«, sagte Rudi, als sie ihren Kaffee vor sich hatten.
    Lev rieb sich die Augen. »Rudi«, sagte er. »Sei einfach mein Freund, okay? Einfach nur das.«
    »Wie meinst du das? Ich bin doch dein Scheißfreund.«
    »Sei nicht mehr so ... inquisitorisch. Halt einfach zu mir als Freund.«
    »Hast du Zweifel an meiner Freundschaft − nach all der Zeit? Nach all der Scheiße, die wir geteilt haben?«
    »Nein.«
    »Was denn sonst? Was?«
    »Du weißt, was . Ich muss mich vorwärts bewegen, nicht rückwärts.«
    Rudi schaufelte sich den Cappuccinoschaum in den Mund, Löffel um Löffel, bis die ganze überquellende Gischt verschwunden war. Seine Augen funkelten vor − was? Wut? Unverständnis? Er trank den Rest des Kaffees, knallte Geld auf den Cafétisch und stand auf. »Ich versteh dich nicht«, sagte er. »Es sollte immer Marina heißen. Du hast gesagt, du hattest den Namen schon, bevor du alles andere hattest. Und jetzt verrätst du ihn.«
    »Nein«, sagte Lev. »Ich versuche nur, meine Zukunft nicht zu verraten.«
    »Du sprichst in Rätseln«, sagte Rudi. »Glaubst du vielleicht, du bist so eine Art philosophisches Genie oder was?«
    Er marschierte los, quer über den Platz, und Lev folgte ihm langsam.
    In der Podrorskystraße holte er Rudi ein, der sich vor der Kunstgalerie aufgepflanzt hatte, der Nachfolgerin des alten Musikgeschäfts. Er starrte durch das Fenster ins Innere, wo eine hell erleuchtete Skulptur, die einem halbierten menschlichen Torso ähnelte, sich langsam auf einem runden Podest drehte.
    »Sieh dir diese Scheiße an!«, sagte Rudi. »Sieh dir diesen Müll an. Kannst du erkennen, woraus die das gemacht haben?«
    »Aus Metall«, sagte Lev.
    »Aus Autoteilen!«, sagte Rudi voller Empörung. »Guck dir die Darmgegend an: Das sind Heizungsschläuche.

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