Der weite Weg nach Hause
»Aber ich fürchte, das hier ist nicht normal.«
Einen Monat später geleiteten Rudi und Lev Ina durch die schwere Glastür, die die rostende Lamellentür der alten Werkstatt ersetzte, in das halb fertige Restaurant. Lev beobachtete, wie seine Mutter den Blick über die ockerfarbenen Wände, den hellen Holzboden, den gemauerten Kamin und die funkelnden Punktstrahler wandern ließ und dann bei den Arbeitern hängen blieb, die die Decke strichen − fast als wäre sie zur Bewunderung der Männer und nicht des Lokals eingeladen worden.
Langsam und ängstlich trat sie näher. Die Maler beugten den Kopf und schauten sie an − so dünn, so bleich in ihrer schwarzen Trauerkleidung −, und einer der beiden schickte ein höfliches »Guten Tag« von seiner Aluminiumleiter herunter. Doch Ina antwortete nicht. Sie wandte den Kopf ab, blickte wieder dorthin, wo von der Straße Licht in den Raum fiel, und beschirmte ihre Augen.
»Wie findest du es, Mama?«, fragte Lev. »Gefällt dir die Wandfarbe? Hast du auch den Kamin gesehen?«
Aber sie reagierte einfach nicht, so wie in der ganzen letzten Zeit. Sie ging langsam zu einem Stuhl, setzte sich und legte die Arme auf einen der neuen Tische. Lev beobachtete, wie sie mit den Händen die Holzfasertischplatte betastete. Dann untersuchte sie ihre Handflächen, als erwarte sie dort Splitter oder Staub.
»Schlechte Qualität«, sagte sie im Flüsterton.
Lev sah Rudi an, der zu seinem leichten Verdruss schon den neuen Anzug trug, den Lev ihm für seine neue Rolle als »Aushängeschild« gekauft hatte.
»Sie hat immerhin einen Kommentar abgegeben«, zischte Rudi. »Oder?«
Lev nickte.
Rudi war sofort an Inas Seite und sagte: »He, Ina, lass doch die Tische. Was hältst du von meinem Anzug? Armani! Kennst du Giorgio Armani? Der erste gute Anzug, den ich je besessen habe. Der ist jedenfalls keine ›schlechte Qualität‹. Möchtest du mal den Stoff fühlen?«
Er hielt Ina den Ärmel hin, und sie hob langsam ihre knotigen, geäderten Hände und stupste mit dem Finger gegen den weichen dunkelblauen Stoff, der Rudis behaarte Arme umhüllte.
»Na?«, sagte Rudi. »Wunderschön, nicht? Siehst du das Seidenfutter? Und jetzt sage ich dir nur noch: Dein Sohn hat mir diesen Anzug gekauft. Mit Geld, das er in England verdient hat. Dieses Lokal, diesen Anzug − alles − hat er möglich gemacht. Und ich hoffe, Ina, diese Tatsache geht endlich mal in deinen Kopf.«
Ina zog ihre Hand von Rudis Armaniärmel. Dann drehte sie sich sehr langsam zu Lev um. »Ich bin halb verhungert«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Wenn dies hier ein Restaurant ist, dann bring mir etwas zu essen.«
Lev starrte sie mit offenem Mund an. Es würde noch Wochen dauern, bis er in der Lage wäre, auch nur irgendetwas in der Küche zu kochen. Die Backöfen und Herde, die er in Glic bestellt hatte, waren noch nicht geliefert worden. Sein Vertrag mit den Gaswerken war noch nicht bestätigt worden, da immer noch Schmiergelder verlangt wurden. »Mama ...«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber ich bin noch nicht so weit ...«
»Nein, nein, warte!«, unterbrach Rudi ihn. »Essen ist keinProblem. Ich gehe was besorgen, Ina. Warte hier. Pack etwas Geschirr aus und deck den Tisch, Lev.«
Rudi sauste zur Tür und rannte hinaus. Lev aber ging nicht Teller und Besteck holen, sondern ließ sich einfach gegenüber von Ina nieder. Er wusste, wohin Rudi rannte: zu Fat Sam’s American Burger Bar , die vor Kurzem am Marktplatz eröffnet hatte. Dort reichte die Warteschlange der Menschen, die einen Sitzplatz oder etwas für zu Hause wollten, an den Freitag- und Samstagabenden um den halben Platz. Lev war bemüht, möglichst nicht an dieses Lokal zu denken, das die Bewohner von Neu-Baryn so zu lieben schienen. Doch er wusste, dass Rudi und Lora häufig unter den Gästen waren und dass Rudis Bauch sich von dem fettigen Fleisch und den Soßen und den weichen Brötchen schon rundete. Wenn das so weiterging, würde er bald zu dick für seinen Armanianzug sein.
Lev blickte seine Mutter an. Sie war schon wieder dabei, mit den Fingern die Faserplatte des Tischs abzutasten. Hin und her bewegten sich ihre Hände, als würde sie ein imaginäres Kartenspiel austeilen.
»Du hast recht, Mama«, sagte er so sanft wie möglich. »Die Tische sind ziemlich billig, aber ich werde weiße Tücher darüber decken. Das sieht bestimmt sehr hübsch aus.«
Sie drehte den Kopf weg − als halte sie Ausschau nach dem bestellten Essen. Sie benahm sich, als
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