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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Scheiße! Die ›Arterien‹ sind Zündkerzenkabel. Das ›Herz‹ da ist ein verdammter Verteiler. Diese degenerierten Arschlöcher!«
    Während Lev hineinstarrte, sah er, wie der Galeriebesitzer in seinem gut geschnittenen Anzug sich dem Fenster näherte, dort stehen blieb und lächelte, als wären Lev und Rudi potenzielle Käufer der Installation in seinem Fenster.
    Rudi sah ihn ebenfalls und sagte: »Der soll mir aus den Augengehen! Ich habe mein halbes beschissenes Leben mit der Suche nach Autoteilen verbracht. Ich habe nachts wach gelegen und mich fast zu Tode gegrämt. Und jetzt? Irgend so ein Bildhauerarschloch verschwendet die einfach − als wären sie nichts wert. Als hätte überhaupt nichts mehr noch irgendeinen Wert.«
    Lev stand sehr still da. Er sah zu, wie der Galeriebesitzer sich wieder nach hinten in die Dunkelheit zurückzog.
    »Wer hat denn jemals den Wert von etwas berechnen können?«, sagte er. »Nur durch den Preis lassen die Menschen sich zum Zahlen bewegen.«
    Levs Restaurant wurde mitten im tiefen Winter eröffnet.
    Es hatte kein Schild, keinen richtigen Namen. Irgendwann war es für die Menschen einfach die Podrorskystraße 43.
    Manchmal, wenn Lev die gedeckten Tische kontrollierte und prüfte, ob die Gläser sauber glänzten, sah er mitten am Nachmittag, wenn die Dämmerung hereinbrach, Menschen durch die Tür starren. »Die Gaffer« nannte Lora sie. Doch mit der Zeit schienen aus den Gaffern Gäste zu werden. Die Stadt war immer noch klein, trotz der neuen Gebäude, die überall entstanden, trotz der neuen Unternehmen, die die alten abgelöst hatten. Und das Gerücht, in der Podrorskystraße 43 könne man für vernünftige Preise gut essen, verbreitete sich in Neu-Baryn rasch und wirkte wie eine lange Serie günstiger Wettervorhersagen. Gegen Ende des Winters war das Restaurant schon für zwei bis drei Wochen im Voraus ausgebucht.
    Rudi − der jeden Abend, wie ein Zauberer, mit verführerischer Autorität zwischen Speisesaal, Bar und Küche hin und her tänzelte und den die eigene Interpretation seiner Rolle als Aushängeschild häufiger zu einem erstaunlich großzügigen Umgang mit Gratisgetränken verleitete − meinte schon sehr bald, das Lokal hätte größer sein müssen, aber Lev sagte Nein, so sei es richtig, so habe er es gewollt: diese Anzahl von Tischen, dieseSpeisekarte, diese unbeirrte Verwendung frischer Zutaten, dieses Gefühl von Intimität und Licht ...
    In Levs Küche − seinem geliebten Reich − brannten die Gasflammen in gehorsamem Blau, sprangen auf plötzlichen, triumphalen Befehl auf Gelb um; die Salamander glühten und flimmerten in heftigem Vulkanrot. Und beim Anblick dieser regenbogenfarbenen Hitze überkam Lev häufig ein Glücksgefühl, so absolut, wie er es noch nie erlebt hatte. Denn er hatte es gemeistert . Es hatte lange gedauert, aber schließlich gehorchten diese stürmischen, nicht fassbaren Wunder nun doch seinem Willen.
    Er schlief nachts nur wenige Stunden, stand früh auf und fuhr die Märkte ab. Er vergaß nicht, dass GK gesagt hatte: »Du musst delegieren . Du kannst nicht vorbereiten und kochen und Geflügel einsammeln und dir Jägerlatein erzählen lassen, und alles am selben Tag.« Doch es ließ sich nicht immer alles delegieren. Rudi, der jeden Abend viel trank und aß, schlief gern lang und teilte nicht − so glücklich er in seiner Rolle als Maître auch war − Levs unternehmerische Leidenschaft. Niemand teilte sie. Und so war es häufig Lev, der in die Berge fuhr, um in abgelegenen Siedlungen Wild zu besorgen, oder lange, anstrengende Fahrten nach Jor unternahm, um Wein einzukaufen. Doch das machte ihm nichts. Er brannte immer noch für seine große Idee . In seinem Herzen spürte er noch immer das Heiße, das Erregende daran.
    Manchmal überholte er auf der Straße Fernreisebusse, die nach Süden fuhren, nach Glic und zur Grenze. Wenn ihm dann der Gestank ihrer schwarzen Auspuffwolke in die Nase stieg, wanderte er in Gedanken zurück zu der lang vergangenen Reise quer durch Europa, dachte dran, wie er den britischen Zwanzigpfundschein in der trüben Beleuchtung angeschaut, Wodka aus seiner Feldflasche getrunken, Eier und Schokolade gegessen hatte − mit Lydia neben sich.
    Lydia.
    Er hatte einen Brief an die Adresse ihrer Eltern geschrieben, vom Restaurant erzählt, die Speisekarte beigelegt, sie und Pjotr Greszler zu einem Gratisessen an einem beliebigen Tag eingeladen. In seinen Träumen erschien sie an der Tür der Podrorskystraße

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